Der Hamburger Religionsunterricht für alle – ein zukunftsweisendes Konzept für den Religionsunterricht?

Hamburger Modell: Religionsunterricht für alle

Hamburg hat ein bundesweit einzigartiges Konzept für den Religionsunterricht eingeführt: dort werden Kinder aller Glaubensrichtungen und auch Kinder konfessionsloser Familien gemeinsam unterrichtet. Die Inhalte des Schulfachs wurden bislang jedoch allein von der evangelischen Kirche verantwortet. Mit dem neuen Konzept eines Religionsunterrichts für alle in multireligiöser Trägerschaft wurde dies geändert. Die interreligiöse Öffnung des Unterrichts erfolgt nun auch formal durch die Trägerschaft anderer Religionsgemeinschaften. Diese verantworten im neuen Modell die jeweils sie betreffenden Unterrichtsinhalte selbst.
 
Politischen Anlass zu diesen Neuüberlegungen gaben die 2013 geschlossenen Verträge zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg mit der alevitischen Gemeinde und den islamischen Verbänden DITIB, VIKZ und Schura Hamburg. Darüber hinaus wurde eine Neuausrichtung des Hamburger Religionsunterrichts auch durch die anhaltende Kritik an der alleinigen evangelischen Trägerschaft forciert, die sowohl von Vertretern des konventionellen Religionsunterrichts als auch von Akteuren pädagogischer und stadtpolitischer Debatten ausging.

Im neuen Modell können neben evangelischen auch jüdische, muslimische, alevitische und voraussichtlich auch katholische Lehrkräfte den Religionsunterricht erteilen. Als Voraussetzung für die Lehrerlaubnis gilt dem Hamburger Senat ein vollständiges Studium und Referendariat (vgl. Behörde für Schule und Berufsbildung: Wegweiser. Ein Religionsunterricht für alle Kinder). Der Unterricht soll ausschließlich von staatlichen Lehrkräften erteilt werden – Geistliche und Mitarbeiter von Religionsgemeinschaften sind nicht dazu berechtigt. Begründet wird dies durch den Anspruch an den Religionsunterricht, Bildung und religiöse Mündigkeit zu vermitteln (vgl. ebd.). Der Religionsunterricht soll die Schüler zudem dazu befähigen, sich in einer multireligiösen Gesellschaft mit unterschiedlichen Weltanschauungen offen bewegen zu können. Der Religionsunterricht für alle möchte seine Schüler zu einem „offenen Dialog“ ermutigen, „in dem die Schülerinnen und Schüler gemeinsam nach solchen Orientierungen im Fühlen und Denken, im Glauben und Handeln suchen, die auf eine lebensfreundliche, freiheitliche und menschenwürdige Zukunft für alle  in einer endlichen Welt zielen“ (ebd.).
 
Hamburg hat als Vorbereitung auf den neuen Religionsunterricht einen Pilotversuch durchgeführt. Dafür wurde eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Schulbehörde sowie von Vertreterinnen und Vertretern der beteiligten Religionsgemeinschaften gegründet, in der schulpraktische und didaktische Fragen diskutiert, Rahmenlehrpläne erarbeitet und die Lehrerbildung und -zulassung erörtert wurde. Zusätzlich wurden gemischte Kommissionen gebildet und es wurden an der Universität Hamburg Lehramtsstudiengänge für islamische und alevitische Religion eingerichtet (vgl. ebd.).
 

Religionsunterricht im Grundgesetz 
 
Neben diesen praktischen Herausforderungen stellen sich auch juristische Anfragen an das neue Modell. Der Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 ist als einziges Unterrichtfach durch das Grundgesetz abgesichert. Er muss in Übereinstimmung mit den „Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt werden – unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts. Diese Bestimmung geht auf die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates zurück: der Staat kann nicht über religiöse Wahrheitsansprüche verfügen. Zugleich ergibt sich aus diesem Spezifikum des Religionsunterrichts, dass er keiner Person zugemutet werden kann, die diesen Wahrheitsanspruch ablehnt. Aus diesem Grund muss es Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern möglich sein, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Aufgrund dessen ist der Religionsunterricht nicht unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen zu denken. Demzufolge tangieren religiöse Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozesse, die in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten voranschreiten, die Praxis des Religionsunterrichts.
 
Der Rechtswissenschaftler Hinnerk Wißmann konstatiert drei unterschiedliche Strategien schulrechtlicher Praxis im Umgang mit den daraus resultierenden Anforderungen an den Religionsunterricht: 1. die Öffnung des jeweiligen Mehrheitsunterrichts im Klassenverband für Schüler anderer oder keiner Konfessionen. 2. Parallel stattfindende Angebote verschiedener Religionsunterrichte (vor allem evangelisch, katholisch und inzwischen auch islamisch) und 3. die Einrichtung eines „kooperativen gemeinchristlichen Religionsunterrichts“, häufig ergänzt durch Philosophie- bzw. Ethikunterricht (vgl. Wißmann, Hinnerk: Religionsunterricht für alle? Zum Beitrag des Religionsverfassungsrechts für die pluralistische Gesellschaft, Tübingen 2019, 31).
 
In Hamburg wurde jedoch ein anderer Weg gewählt. Dort wurde zunächst ein Religionsunterricht für alle in evangelischer Trägerschaft eingerichtet. Inzwischen wurde er durch das Konzept des Religionsunterrichts für alle in gemeinsamer Trägerschaft ersetzt. Wißmann betrachtet die Neuerung als ein völlig neues Modell, das grundlegende verfassungsrechtliche Fragen evoziert (vgl. ebd., 33).

Aus diesem Grund hat die Nordkirche ein rechtswissenschaftliches Gutachten beauftragt. Wißmann überprüft darin, ob es im Rahmen von Art. 7 Abs. 3 GG möglich ist, „eine religionsübergreifende Einigung auf ‚Grundsätze‘“ zu formulieren, die als „Grundlage eines Curriculums herangezogen werden können“ (ebd., 33).
 
Wißmann gelangt in seinem Orientierungsgutachten zu der Auffassung, dass „unter linearer Anwendung der bisher vorzufindenden Kriterien […] ein religionsübergreifender, trägerpluraler Religionsunterricht im Bereich des Art. 7 Abs. 3 GG nicht möglich [ist]“ (ebd., 60). Wißmann konstatiert demnach, dass sich der Hamburger Religionsunterricht außerhalb der Reihe des konventionellen Religionsunterrichts bewegt. Daraus leitet er aber nicht dessen verfassungsrechtliche Unmöglichkeit ab. Vielmehr sieht Wißmann neue Möglichkeiten, wenn einer solchen Weiterentwicklung eine bewusste Entscheidung vorausgeht.
 
Unter der Voraussetzung einer gesellschaftspolitischen Willensbekundung sind demnach neue Wege beim Religionsunterricht denkbar. Diese setzen aber eine Begründungslast der Akteure voraus. Sie müssen belegen, warum ihre neuen Pfade den Auftrag des Verfassungsrechts noch immer erfüllen. Zudem müssen sie exakt nachzeichnen, an welchen Punkten sich ihre Neuregelungen von den bisher angewandten Vorgaben unterscheiden und darüber hinaus aufzeigen, ob dafür eine „hinreichende Kompensation“ zur Verfügung gestellt wird (ebd., 65). Die Erfahrung mit dem neuen Konzept wird zeigen, ob der Hamburger Religionsunterricht für alle in multireligiöser Trägerschaft ein Zukunftsmodell für den Religionsunterricht in Deutschland sein kann.
 
Dr. Hanna Fülling
 
Behörde für Schule und Berufsbildung: Wegweiser. Ein Religionsunterricht für alle Kinder

Zuerst veröffentlicht auf: www.ezw-berlin.de

NRW schafft neues Format für Islampolitik

Die schwarz-gelbe Landesregierung in NRW hat eine Neuausrichtung der Islampolitik angekündigt. Die Regierungsparteien hatten bereits 2017 im Koalitionsvertrag erklärt, dass die Islampolitik der Vorgängerregierung gescheitert sei und ein neues Format etabliert werden solle. Unter der rot-grünen Landesregierung war 2013 das „dialog forum islam“ (dif) initiiert wurden, in dem die Landesregierung einen regelmäßigen Austausch mit den Islamverbänden DİTİB, Verein Islamischer Kulturzentren (VIKZ), Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD), Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) sowie mit dem alevitischen Dachverband AABF pflegte. Dieses Format wurde von der neuen Landesregierung durch eine Struktur ersetzt, die auf die Repräsentation der religiösen und organisatorischen Vielfalt der Muslime in NRW zielt. Hierzu wurde eine Koordinierungsstelle „Muslimisches Engagement in NRW“ eingerichtet, die im Ministerium für Kinder, Familien, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) angesiedelt ist und durch zwei neu eingerichtete Planstellen realisiert werden soll.

Die Koordinierungsstelle beabsichtigt, viele muslimische Akteure einzubinden und auch „liberalen und weltoffenen Muslimen“ eine Plattform zu bieten, die über einen rein formalisierten Dialog hinausgeht, praxisorientierter arbeitet, die Lebenswirklichkeit von Muslimen in den Blick nimmt und innermuslimische Aushandlungsprozesse stärkt. Zudem sollen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen beleuchtet, Expertenwissen eingebunden, die Projekte gefördert werden, die muslimisches Empowerment vor allem auch auf kommunaler Ebene fördern und Vernetzung ermöglichen.

Die Koordinierungsstelle setzt sich aus drei verschiedenen Bereichen zusammen: dem Forum muslimische Zivilgesellschaft, dem Expertenrat und dem Projektmanagement. Das Forum muslimische Zivilgesellschaft soll die muslimische Vielfalt abbilden und die Interessen der Muslime gegenüber Politik, Medien und Gesellschaft vertreten. Hierzu wird offen eingeladen. Der Expertenrat entwickelt Handlungsempfehlungen für die Landesregierung, die jedoch weder rechtlich bindend sind noch den Anspruch erheben, die Meinungspluralität aller Musliminnen und Muslime in NRW abzubilden. Im Bereich des Projektmanagements werden Projekte gefördert, die für Professionalisierungsprozesse, Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden sollen.

Die große Herausforderung dieses vielversprechenden Formats besteht insbesondere in der innermuslimischen Verständigung und Zusammenarbeit. Die Regierung hat versucht, die verschiedenen muslimischen Verbände in Vorgesprächen zum Dialog und zur Zusammenarbeit zu ermutigen. Hierzu wurden neben den Verbänden des Koordinierungsrat der Muslime (KRM) auch der Liberal-islamische Bund (LIB), die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS), die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD), die Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland (UIAZD), das Bündnis Marokkanische Gemeinde (BMG) und die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) an einem Tisch versammelt. Besonders kontrovers wurde in den Vorgesprächen die Zusammensetzung des Expertenrates diskutiert – was naheliegt, da über dieses Format der stärkste Einfluss auf die Landesregierung ausgeübt werden kann. 

Neben diesem neuen Format zum innermuslimischen und interreligiösen Dialog und zu dem zwischen muslimischen und staatlichen Akteuren wird gegenwärtig auch die Neustrukturierung des islamischen Religionsunterrichts in NRW intensiv diskutiert. Der Beirat, der bislang als Ersatz für den fehlenden repräsentativen Ansprechpartner auf muslimischer Seite fungierte und neben muslimischen auch mit staatlichen Vertretern besetzt war, soll durch eine Kommission abgelöst werden. An dieser Kommission sollen alle landesweiten verfassungstreuen muslimischen Zusammenschlüsse teilnehmen können. Staatliche Vertreter sollen nicht mehr einbezogen werden. Die Struktur des Kommissionsmodells für den Religionsunterricht scheint an der Zusammensetzung des Forums der neuen Koordinierungsstelle orientiert zu sein. 

Die islamischen Verbände des Beirats lehnen den neuen Vorschlag ab und treten dafür ein, die bisherige Übergangslösung durch eine Überführung in den Regelbetrieb abzulösen, der darauf basiert, dass Verbände als Religionsgemeinschaften anerkannt werden und Religionsunterricht anbieten können (vgl. IRD: Stellungnahme zum 14. Schulrechtsänderungsgesetz [A 15 -IRU- 28.05.2019]) (der entsprechende Antrag von ZMD und IRD wurde vom Oberverwaltungsgericht [OVG] Münster 2017 zunächst abgelehnt. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht das entsprechende Urteil aufgehoben und den Fall an das OVG Münster zurückverwiesen).

Experten befürchten, dass die Zustimmung zum Religionsunterricht in der muslimischen Community sinken könnte, wenn die Verbände nicht mehr ausreichend Gewicht bei der Gestaltung bekämen. Die muslimischen Verbände sehen in der neuen Kommission zudem eine unzulässige Einflussnahme des Staates auf die Angelegenheiten der islamischen Religionsgemeinschaften. Die neue Kommission kann jedoch auch gerade als Möglichkeit betrachtet werden, den staatlichen Einfluss auf den islamischen Religionsunterricht zu minimieren und die Pluralität der islamischen Positionen und Theologien stärker abzubilden. Zu klären ist allerdings, wie eine konstruktive Zusammenarbeit in einer solchen Kommission realisiert und die Arbeitsfähigkeit des Gremiums gewährleistet werden kann.

Dr. Hanna Fülling

Bericht des Ministers für Kinder, Familien, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) am 3. April 2019

IRD: Stellungnahme zum 14. Schulrechtsänderungsgesetz (A 15 -IRU- 28.05.2019)

Erstmalig veröffentlicht auf: www.ezw-berlin.de

Die Deutsche Islam Konferenz – Religion, Politik und Integration

Am 28./29. November 2018 hat das Bundesinnenministerium (BMI) die vierte Deutsche Islam Konferenz (DIK) eröffnet. Der Gastgeber Horst Seehofer begrüßte die Teilnehmenden mit einer Grundsatzrede, in der er die Agenda für die vierte Islamkonferenz in der Fragestellung zusammenfasste, wie es gelingen könne, einen Islam in Deutschland zu fördern, „der in unserer Gesellschaft verwurzelt ist, die Werte unseres Grundgesetzes teilt und die Lebensarten dieses Landes achtet – einen Islam in, aus und für Deutschland, einen Islam der deutschen Muslime“1. Hierzu hat Seehofer viele verschiedene Akteure eingeladen, die den Islam bzw. den Islamdiskurs in Deutschland beeinflussen. Das BMI hat auf diese Weise versucht, die Pluralität des Islam in Deutschland möglichst umfassend abzubilden und miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Mittelpunkt der DIK IV sollen alltagspraktische Fragen des Zusammenlebens stehen.

Einige dieser Ideen knüpfen stark an vorangegangene Formate der DIK an, andere weichen explizit davon ab. Die aktuelle DIK bewegt sich zwischen Kontinuität und Wandel. Was sagt diese Ausrichtung über die Entwicklung der Islampolitik in Deutschland? Welche Fortschritte lassen sich beobachten? Welche Lernprozesse sind zu erkennen? Inwiefern haben sich die Bedingungen verändert und wo sind Stagnationen oder gar Rückschritte zu erkennen? Und zuletzt: Auf welchen Leitideen basieren die Konferenzen?

Zur Klärung dieser Fragen bedarf es einer Rückschau auf die Entwicklung der Deutschen Islam Konferenz von 2006 bis heute. Hierzu werden im Folgenden die vier Phasen der DIK hinsichtlich ihrer Strukturen, ihrer personellen Zusammensetzung sowie ihrer Zielsetzungen und Ergebnisse beleuchtet und in Beziehung zueinander gesetzt.

DIK I (2006 – 2009) – Aufbruch zur Religionspolitik

Die Einberufung der DIK im Jahr 2006 kann als eine Wende der deutschen Religionspolitik betrachtet werden. Schien die Politik jahrzehntelang mehrheitlich von der Auffassung geleitet, dass mit dem Art. 4 GG, dem Art. 7 GG und den Art. 136-141 der Weimarer Reichsverfassung (WRV), die in Art. 140 GG inkorporiert wurden, alle notwendigen Regelungen zur Religionspolitik erfolgt seien, änderte sich diese Einschätzung mit Beginn des 21. Jahrhunderts nach und nach. Nachdem in der Politik anerkannt wurde, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, sich das religiöse Feld nachhaltig pluralisiert hat und Religion spätestens seit dem 11. September 2001 wieder zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, wurden religionspolitische Herausforderungen in der Politik wieder stärker wahrgenommen. Eine Reaktion darauf war die Einberufung der Deutschen Islam Konferenz im Jahr 2006. Sie wurde im Referat M II 3 „Interkultureller Dialog und Deutsche Islam Konferenz“ in der Abteilung „Migration, Integration, Flüchtlinge und Europäische Harmonisierung“ des Bundesinnenministeriums eingerichtet.

Die strukturelle Einbindung der DIK zeigt, wie diese neue Form der Religionspolitik in Deutschland verstanden wurde: Sie wurde nicht ausschließlich von Überlegungen zur religionspolitischen Integration geleitet, sondern von umfassenden Integrationsbemühungen sowie von sicherheitspolitischen Erwägungen.

Sie fand auf Initiative und unter Leitung des BMI statt. Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble formulierte als Aufgabenstellung der DIK die Suche nach „Lösungen der Probleme des Zusammenlebens gemeinsam und im Dialog mit den in Deutschland lebenden Muslimen“2. Die DIK wurde als ein „Problembearbeitungsinstrument, für das der Modus der Verhandlung zentral ist“3, konstituiert. Das BMI legte in der DIK I die Teilnehmenden, die Struktur und die thematische Agenda fest. Das repräsentative Plenum wurde mit 15 staatlichen und 15 muslimischen Akteuren besetzt. Die staatlichen Vertreter setzten sich aus Kommunal-, Landes- und Bundespolitikern zusammen. Die Besetzung aufseiten der Muslime stellte von Beginn an eine große Herausforderung dar, da die Frage, wer die Muslime in Deutschland repräsentiert, unterschiedlich beantwortet wurde und bis heute kontrovers diskutiert wird. Schäuble entschied sich dafür, die Muslime in Deutschland durch verbandlich organisierte Akteure sowie durch nichtverbandlich organisierte muslimische Einzelpersonen abzubilden. 5 der 15 muslimischen Teilnehmenden wurden mit Mitgliedern der Verbände (DİTİB, ZMD, VIKZ, IRD und AABF) besetzt, die anderen zehn besetzte Schäuble durch „Vertreter der nicht organisierten Muslime …, die die verschiedensten Facetten der muslimischen Lebenswirklichkeit in Deutschland repräsentieren sollten“4. Er begründete diese Einladungspolitik mit einer Erhebung, der zufolge lediglich 15 bis 20 % der Muslime in Deutschland durch die islamischen Verbände repräsentiert werden.

Diese Einladungspolitik war von Anfang an umstritten und wurde vor allem von den islamischen Verbänden als unzulässige Einmischung des Staates in die Entwicklung des Islam in Deutschland aufgefasst. Es wurde kritisiert, dass sich der Staat einen „Wunschislam“ zusammenstelle und damit seine Neutralitätspflicht verletze. Trotz dieser Kritik nahmen auch die Vertreter der muslimischen Verbände an der Konferenz teil und bearbeiteten in Arbeitsgruppen und einem Gesprächskreis gesellschaftspolitische, religionspolitische, integrationspolitische und sicherheitspolitische Fragestellungen.

Die AG 1 diskutierte die deutsche Gesellschaftsordnung, formulierte einen Wertekonsens und prüfte dessen praktische Verwirklichung. In der AG 2 wurden Religionsfragen vor dem Hintergrund des deutschen Verfassungsverständnisses diskutiert. Dort wurde etwa der rechtliche Umgang mit Normen der Scharia beraten, die Ausbildung von islamischen Religionsbediensteten, die Etablierung von islamischer Theologie an deutschen Universitäten sowie die Handhabung schulpraktischer Fragen, etwa bezüglich Kleidungsvorschriften im Sport- und Schwimmunterricht, der Teilnahme an Klassenfahrten sowie des Umgangs mit religiösen Feiertagen. Die AG 3 diskutierte eine stärkere Partizipation von Muslimen an der deutschen Medienlandschaft. Der Gesprächskreis verständigte sich über das Thema Bedrohung der inneren Sicherheit durch den Islamismus in Deutschland und entwickelte Kooperationsprojekte zwischen Bund und Ländern. Die Integration der Sicherheitsthematik in die Konferenz rief unter einigen muslimischen Teilnehmern der DIK Kritik hervor, da diese den Gesprächskreis als Generalverdacht gegen Muslime auffassten.

Die intensiven und sehr kontroversen Debatten, die sich vor allem aus der Zusammensetzung der Muslime in der DIK ergaben, beschränkten sich nicht auf die Arbeitsgruppe, den Gesprächskreis und das Plenum, sondern erreichten auch den breiten öffentlichen Diskurs. Die Einbindung der Öffentlichkeit in die Prozesse und Diskussionen der DIK wurde von Wolfgang Schäuble selbst angestoßen. Wenige Tage vor Beginn der Konferenz wurde in der FAZ sein Artikel „Muslime in Deutschland“ veröffentlicht. Schäuble hat darin unter anderem seine Auffassung von der Rolle und Bedeutung von öffentlicher Religion im säkularen Staat grundsätzlich dargelegt und betont, dass Religionen gläubigen Personen Halt und Orientierung geben und Menschen miteinander verbinden können. Der säkulare Staat könne von den Antriebs- und Bindungskräften5 der Religionen profitieren, wenn die religiösen Ansprüche in den gesetzlichen Rahmen der Grund- und Bürgerrechte eingebunden seien.

Diese Passagen geben einen deutlichen Hinweis darauf, dass Schäuble den staatlichen Dialog mit den Muslimen nicht nur in integrations- und sicherheitspolitische Erwägungen eingebettet, sondern dass er die DIK auch durch die gesellschaftliche Bedeutung von Religion – Bedeutung verstanden als Relevanz und Sinngebung von Religion – begründet hat. Damit hat Schäuble im Rahmen der DIK die kooperativ ausgerichtete Religionspolitik in Deutschland bekräftigt und die Islampolitik in das Politikfeld der Religionspolitik eingebunden. Er hat damit aber auch ein neues Nachdenken über Religionspolitik in Deutschland ausgelöst. Gegenwärtig wird auf breiter gesellschaftlicher Ebene über die Beibehaltung oder Veränderung des deutschen Religionsverfassungsrechts diskutiert. Zudem erheben auch weitere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Anspruch auf religionspolitische Inklusion6 und erfahren zunehmend gesellschaftspolitische Resonanz.

DIK II (2010 – 2013) – Religion, Sicherheit und Integration

Die DIK II, die von Thomas de Maizière eröffnet und nach dessen Wechsel ins Verteidigungsministerium von Hans-Peter Friedrich fortgeführt wurde, vernachlässigte solche grundsätzlichen Überlegungen zur Beziehung zwischen Staat und Religionen eher, da sie beanspruchte, praktische Aufgaben zu fokussieren.

Lesen Sie weiter im Materialdienst der EZW: https://www.ezw-berlin.de/html/15_10028.php


Anmerkungen

1 Horst Seehofer: Grundsatzrede zum Auftakt der 4. Deutschen Islam Konferenz, www.bmi.bund.de/SharedDocs/reden/DE/2018/11/rede-dik-20181128.html (Abruf: 12.12.2018).
2 Wolfgang Schäuble: Deutsche Islam Konferenz – Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft. Rede zur 54. Sitzung des Deutschen Bundestages, in: Deutsche Islam Konferenz (Hg.): Drei Jahre Deutsche Islam Konferenz (DIK) 2006 – 2009. Muslime in Deutschland – deutsche Muslime, Berlin 2009.
3 Marcel Klinge: Islam und Integrationspolitik deutscher Bundesregierungen nach dem 11. September 2001. Eine Politikfeldanalyse der ersten Deutschen Islam Konferenz und ihrer Implikationen für die nationale Integrationspolitik, Berlin 2012, 143f.
4 Schäuble: Deutsche Islam Konferenz (s. Fußnote 2), 17.
5 Vgl. Wolfgang Schäuble: Muslime in Deutschland (Namensartikel in der FAZ vom 27.9.2006), www.wolfgang-schaeuble.de/wp-content/uploads/2015/04/060927faz.pdf (Abruf: 11.12.2018).
6 Dies äußert sich etwa in der Forderung nach einer Konferenz über Religions- und Weltanschauungsfragen durch den Präsidenten des Humanistischen Verbandes Deutschlands, Florian Zimmermann. Zimmermann sieht das langfristige Ziel einer solchen Konferenz in der Reform des Staatskirchenrechts. Vgl. hpd: Der Islam, eine ganz normale Religion?, https://hpd.de/artikel/islam-ganz-normale-religion-16253 (Abruf: 21.12.2018).

Religion und Integration in der deutschen Islampolitik

Entwicklungen, Analysen, Ausblicke

Hanna Fülling analysiert, wie die Verbindung von Religion und Integration in der politischen Sicht auf den Islam in der deutschen Islampolitik bestimmt wird. Dieses Forschungsfeld wird durch Berücksichtigung religionstheoretischer, politikwissenschaftlicher und soziologischer Ansätze transdisziplinär erschlossen. Anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse von Dokumenten der Deutschen Islam Konferenz werden Übereinstimmungen, aber auch Konflikte und Spannungslinien zwischen den relevanten Akteursgruppen herausgestellt und in normativer Perspektive ausgewertet. Erkennbar wird, dass unter den Akteuren ein weitgehender Konsens über die positive Bewertung von (öffentlicher) Religion besteht. Differenzen werden jedoch in Bezug auf das Verständnis und die Verbindung von Religions- und Integrationspolitik deutlich.

Hanna Fülling, Religion und Integration in der deutschen islampolitik. Entwicklungen, Analysen, Ausblicke, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2019.

DOI10.1007/978-3-658-24978-6

Verlagsseite mit Vorschau: https://www.springer.com/de/book/9783658249779

Religionspolitik

„Religionspolitik“ ist in Deutschland erst seit Kurzem ein gesellschaftspolitischer Begriff. Viele Jahre schien das Verhältnis von Staat, Politik und Religion durch das Staatskirchenrecht ausreichend bestimmt. Doch seitdem die Rolle von Religionen in modernisierten Gesellschaften zunehmend kontrovers zwischen den widerstreitenden Narrationen von einer voranschreitenden Säkularisierung auf der einen und dem Wiedererstarken von Religion auf der anderen Seite diskutiert wird, sind vermehrt offene Fragen sichtbar geworden. Sie kulminieren mitunter in einer grundsätzlichen Infragestellung der bestehenden Ordnung.

Die Diagnose einer abnehmenden Bedeutung der Religionen durch voranschreitende Säkularisierungsprozesse wird dabei etwa als Argument eingeführt, um die derzeitige Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften bzw. Kirchen infrage zu stellen oder um eine stärkere (auch strukturelle) Wahrnehmung von Konfessionslosen zu fordern. Letzteres wird häufig von humanistischen Organisationen angeregt, die sich gern als Sprachrohr für die konfessionslose Bevölkerungsgruppe verstanden wissen und ihren Einfluss ausbauen wollen (vgl. Bauer 2016, 232f). Allerdings wird auch die zunehmende religiöse Pluralisierung der Gesellschaft als Argument für eine stärker laizistisch orientierte Religionspolitik herangezogen, da in der Privatisierung von Religion die Lösung zum Umgang mit religiöser Vielfalt gesehen wird. Das Argument lässt sich beispielsweise in der aktuellen Diskussion über das Berliner Neutralitätsgesetz beobachten. Diese Kontroversen haben Auswirkungen auf das Verständnis und die Ausrichtung der Religionspolitik.

Handlungsfeld

Wie umstritten die Bestimmung der Religionspolitik ist, wird beim Versuch deutlich, das Handlungsfeld von Religionspolitik zu definieren. So vertritt etwa der Staats- und Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde die Position, dass mit der Anerkennung der Religionsfreiheit im Grundgesetz alles Notwendige zum Verhältnis von Staat und Religion gesagt sei. Er hinterfragt deshalb, ob es eine staatliche Religionspolitik überhaupt geben dürfe oder ob nicht jede Einmischung des Staates in die Freiheit und Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften eine Verletzung der Trennung von Staat und Religion darstelle. Religionspolitik wird von Böckenförde demnach als Verteidigung der Religionsfreiheit beschrieben. Er fokussiert sich dabei vor allem auf die Grenzen von Religionspolitik, indem er die Trennung von Staat und Kirche als leitendes Prinzip zugrunde legt. Dass allerdings auch diese Funktionsbeschreibung von Religionspolitik politische und rechtliche Aushandlungsprozesse und Entscheidungen erforderlich machen kann, wird spätestens dann deutlich, wenn die Religionsfreiheit mit anderen Grundrechten in Konflikt gerät oder wenn die Freiheit von der Religion (negative Religionsfreiheit) gegen die Freiheit zur Religion (positive Religionsfreiheit) in Stellung gebracht wird.

Die daraus resultierende Prozesshaftigkeit von Religionspolitik berücksichtigt der Politikwissenschaftler Ulrich Willems in seiner Bestimmung von Religionspolitik. Er definiert sie „als all jene Prozesse und Entscheidungen, in denen die religiöse Praxis von Individuen einschließlich ihrer kollektiven Ausdrucksformen sowie der öffentliche Status, die Stellung und die Funktionen von religiösen Symbolen, religiösen Praktiken und Religionsgemeinschaften in politischen Gemeinwesen geregelt werden“ (Willems 2001, 137). Willems‘ Definition schließt aktuelle Debatten über Religionsunterricht, den Umgang mit religiösen Symbolen in staatlichen Einrichtungen (Kreuz, Kopftuch etc.) und religiösen Ritualen und Praktiken (z. B. Beschneidung, Bestattungen, Feiertage) sowie die Anerkennung von religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen als Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und die Verleihung des Körperschaftsstatus mit ein. Den sich aus diesen Diskussionen und Anträgen ergebenden anhaltenden Steuerungs- und Aushandlungsbedarf bettet Willems allerdings nicht in die religions- und verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes ein. In seiner Definition deutet sich damit eine Offenheit für die Aushandlung der normativen Grundlagen der Religionspolitik an.

Der Politikwissenschaftler Antonius Liedhegener betrachtet diesen Ansatz skeptisch und sieht die Gefahr, dass der politischen Regulierung von Religion hierdurch ein zu großer Handlungsspielraum eingeräumt werde. Er beschreibt Religionspolitik als eine Kombination aus den religions- und verfassungsrechtlichen Grundlagen mit den fortlaufenden juristischen und politischen Entscheidungen und administrativen Festlegungen, die aus dem anhaltenden Regelungsbedarf im Feld der Religionspolitik resultieren. Er betrachtet den Aushandlungsbedarf nicht als ungewöhnlich, da es ihn in gewissem Umfang zu jeder Zeit gegeben habe.

In Liedhegeners Bestimmung wird zudem das besondere Zusammenspiel von rechtlicher und politischer Regulierung deutlich, das für die Religionspolitik in Deutschland charakteristisch ist. Die Komplexität dieses engen Zusammenspiels steigert sich noch dadurch, dass die deutsche Religionspolitik verschiedene Instanzen in Bund, Ländern und Kommunen tangiert. Während im Bund Fragen des Religionsverfassungsrechts in grundsätzlicher Art, Aspekte des Tierschutzes sowie Fragen des Arbeits- und Betriebsverfassungsrechts entschieden werden, haben die Länder die Kultushoheit und bestimmen etwa über den Religionsunterricht. In den Kommunen werden hingegen vor allem Herausforderungen gelebter Religiosität ausgetragen (interreligiöser Dialog, Moscheebau etc.).

Rechtliche und politische Grundlagen

Die einzelnen Bestimmungen des deutschen Religionsverfassungsrechts fußen auf Art. 4 GG, dem Recht auf Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit sowie auf der Versicherung, dass die ungestörte Religionsausübung gewährleistet wird. Ergänzt wird es durch Art. 7 GG, in dem der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in den Schulen (mit Ausnahme von bekenntnisfreien Schulen) kodifiziert wird. Grundlegende Bestimmungen zum Religionsverfassungsrecht bilden zudem die Art. 136-141 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919, die in Art. 140 GG inkorporiert wurden. In diesen Artikeln werden sowohl Trennungs- als auch Verbindungslinien zwischen Staat und Religion fixiert. So wird im Art. 137 WRV, Abs. 1, festgelegt, dass es keine Staatskirche gibt und dass Religionsgesellschaften ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken des geltenden Rechts selbständig ordnen und verwalten. Die Trennung zwischen Staat und Religion schützt sowohl die Hoheitsmacht des Staates vor religiösen Übergriffen als auch die Religion vor staatlichen Machtansprüchen und Vereinnahmungen.

In Deutschland ist diese Trennung allerdings nicht laizistisch, sondern kooperativ ausgerichtet und zeichnet sich demnach durch ein kontrolliertes Aufeinanderbezogensein aus. Dies drückt sich etwa in Art. 141 WRV, in der Möglichkeit zur Militär-, Gefängnis- und Krankenhausseelsorge, aus sowie in Art. 137 WRV, Abs. 5 und 6, mit der Möglichkeit für Religionsgemeinschaften, sich als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu organisieren und beispielsweise Steuern zu erheben. Religionen werden in diesen Bestimmungen als Akteure des öffentlichen Lebens anerkannt und dafür vom Staat gefördert. Als solche übernehmen sie Aufgaben in der Gesellschaft. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Arbeit von Organisationen wie Caritas, Diakonie und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Der Staats- und Kirchenrechtler Hans Michael Heinig fasst die Vorteile des Religionsverfassungsrechts darin zusammen, dass die destruktiven Potenziale von Religion eingehegt und ihre sozialproduktiven Kräfte stimuliert werden (vgl. Heinig 2018, 21).

Religion wird jedoch nicht nur ein Beitrag zur Funktionalität und Gestaltung der Gesellschaft, sondern auch zu ihrer Sinnstiftung attestiert. Diese ist Böckenförde zufolge für den freiheitlichen, säkularisierten Staat essenziell, da er „von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“. Böckenförde äußerte diesen Satz in einem Text des Jahres 1967 und stellte damit zum einen ein zentrales Wagnis eines freiheitlichen Staates heraus und versuchte zum anderen, Christen dazu zu ermutigen, ihren Platz im säkularen Rechtsstaat einzunehmen. Eine modifizierte Neuauflage erfuhr dieses Argument durch den Sozialphilosophen Jürgen Habermas, der die Gefahr hervorhebt, dass sich der Staat durch einen vorschnellen Ausschluss von religiösen Argumenten aus dem öffentlichen Diskurs wichtiger Anregungen und Sinnressourcen berauben könnte.

Einschätzung

Die im Religionsverfassungsrecht festgelegte kooperative Trennung von Staat und Religion basiert auf einer „respektvolle[n] Nicht-identifikation des Staates“ (Bielefeldt 2007, 77). Strukturell übersetzt sich dieser Grundsatz in Deutschland darin, dass die Kooperationsmöglichkeiten zwischen Staat und Religion prinzipiell allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zugänglich sind. Auch wenn der Staat aufgrund von Traditionen, historischen Entwicklungen und des kollektiven Gedächtnisses der Gesellschaft unterschiedliche Grade von Nähe, Kooperation und Distanz zu verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften aufweist, stellen die religionspolitischen Grundlagen ein gutes Grundgerüst zum Umgang mit religiösem und weltanschaulichem Pluralismus dar.

Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates dient dabei als kritisch-normatives Prinzip, durch das bewusste oder nicht bewusste Diskriminierung angezeigt und ausgleichende Veränderungsprozesse angeregt werden können. Wichtig ist, dass sich die Nicht-Identifikation in den staatlichen Strukturen manifestiert, Parität gewährleistet ist und die Kooperationsmöglichkeiten somit auch tatsächlich allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften offen stehen. Dass Änderungen und neue Kooperationen politischer Aushandlungen bedürfen und auch gesellschaftspolitische Diskussionen und Kontroversen hervorrufen können, belegen zahlreiche aktuelle religionspolitische Debatten über Religions- und Weltanschauungsunterricht, über religiöse Symbole im öffentlichen Raum sowie über die Kooperationen und Verträge zwischen Staat und Religionsgemeinschaften.

Die Dynamik solcher religionspolitischer Prozesse wird am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch von Lehrerinnen in öffentlichen Schulen besonders deutlich: Während das Bundesverfassungsgericht 2003 entschieden hatte, dass die Bundesländer ein Kopftuchverbot von Lehrerinnen in öffentlichen Schulen erteilen können, wenn eine hinreichend bestimmte Grundlage besteht, wies das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung im Jahr 2015 als verfassungswidrig zurück und bestimmte stattdessen, dass ein solches Verbot nur zulässig ist, wenn der Schulfrieden nachweislich gestört wurde.

Die bestehenden religionsverfassungsrechtlichen Bestimmungen sind im Grundsatz dafür geeignet, solche Kontroversen zu lösen und den Regelungsbedarf auszuhandeln. Diese Einschätzung vertritt auch eine Mehrheit der parteipolitischen Akteure (vgl. von Scheliha 2018, 133). Ein laizistischerer Kurs findet dagegen vor allem in Teilen von Bündnis 90/Die Grünen sowie Teilen der Linken und der FDP Zustimmung.

Am deutlichsten ist er aber in der AfD ausgeprägt. Sie fordert in ihrem Wahlprogramm für die Landtagswahl in Bayern 2018 die Ablösung der Staatsleistungen, die Auflösung der Staatskirchenverträge, die Unterbindung des Kirchenasyls sowie die Verdrängung religiöser (islamischer) Symbole und Rituale aus dem öffentlichen Raum. Experten, wie Ulrich Willems, sehen in solchen Forderungen, die nicht mit dem Freiheitsrecht der Religionsfreiheit vereinbar sind, auch ein Resultat der Zögerlichkeit politischer Entscheidungsfindung (vgl. Willems 2018, 15).

Die Veränderungen der Gesellschaft seit 1919 und 1948 machen eine intensive Debatte über das Handlungsfeld von Religionspolitik, über Anpassungen und über eventuelle Neuerungen erforderlich. Ein gewisser Veränderungs- und Ausgleichsbedarf sollte von den politischen Akteuren nicht ignoriert, sondern gemeinsam mit religiösen und weltanschaulichen Akteuren diskutiert werden. Denn nur auf diese Weise kann die Integrationskraft des bestehenden Religionsverfassungsrechts auch unter den Bedingungen einer sich zunehmend religiös und weltanschaulich pluralisierenden Gesellschaft gewährleistet werden. Zudem sollte Religionspolitik Räume schaffen, in denen Kritik an und zwischen den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften artikuliert werden kann und eine (auch kritische) Verständigung ermöglicht wird, durch die Diskussionen in Extremen und ein vereinfachender Dualismus vermieden werden.

Der Artikel entstand als Stichwort der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) und wurde erstmalig im Materialdienst der EZW veröffentlicht. Dieser Artikel und weitere zum Thema sind auf der Website abrufbar:  www.ezw-berlin.de


Quellen

Bundesverfassungsgericht (BVerfG): BVerfG 2 BvR 1436/02, 2003
Bundesverfassungsgericht (BVerfG): BVerfG 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10v), 2015
Alternative für Deutschland (AfD): Bayern. Aber sicher! Wahlprogramm Landtagswahl Bayern 2018, Nürnberg 2018

Sekundärliteratur

Bauer, Michael: Kooperative Laizität. Herausforderungen der deutschen Religionspolitik aus Sicht des Humanistischen Verbandes Deutschlands, in: Thörner, Katja / Thurner, Martin (Hg.): Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus, Freiburg i. Br. 2016, 225-246
Bielefeldt, Heiner: Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Notwendigkeit und Grenzen staatlicher Religionspolitik, in: Thierse, Wolfgang (Hg.): Religion ist keine Privatsache, Düsseldorf 2000, 173-184
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der säkularisierte Staat, München 2007
Habermas, Jürgen: Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung, Bonn 2005, 15-37
Heinig, Hans Michael: Staat und Religion in Deutschland. Historische und aktuelle Dynamiken im Religionsrecht, in: APuZ 28-29/2018, 16-21
Liedhegener, Antonius: Das Feld der Religionspolitik – ein explorativer Vergleich der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz seit 1990, in: Zeitschrift für Politik (ZfP), 61/2 (2014), 182-208
Scheliha, Arnulf von: Zwischen christlicher Leitkultur und Laizismus. Zur religionspolitischen Willensbildung der Parteien in Deutschland, in: Gerster, Daniel / van Melis, Viola / Willems, Ulrich (Hg.): Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland, Freiburg i. Br. 2018, 116-138
Willems, Ulrich: Religionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1955. Die politische Regulierung der öffentlichen Stellung von Religion und Religionsgemeinschaften, in: ders. (Hg.): Demokratie und Politik in der Bundesrepublik Deutschland: 1945 – 1999, Opladen 2001, 137-162
Willems, Ulrich: Stiefkind Religionspolitik, in: APuZ 28-29/2018, 9-15

Religions- und Islampolitik der GroKo

Noch immer ist unklar, ob sie kommt – die neue GroKo. Doch was kommen wird, wenn sie kommt, ist inzwischen durch den vorliegenden Entwurf des Koalitionsvertrags deutlicher geworden. Der Vertrag verspricht Erneuerung: „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“.

Über das tatsächliche innovative Potential und die gesellschaftspolitischen Visionen des Vertrages wird in diesen Tagen viel diskutiert. Würde man die Bewertung des Erneuerungspotenzials einzig an die Religionspolitik binden, so müsste das Urteil negativ ausfallen. Die religionspolitischen Herausforderungen durch die zunehmende religiöse Pluralisierung und die wachsende Zahl an konfessionslosen Personen in Deutschland wird nicht benannt. Die Kooperationen zwischen Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften werden vielmehr überhaupt nicht explizit thematisiert.

Religionspolitische Agenda

Einzig die folgenden Sätze geben einen Hinweis auf die Anerkennung der bestehenden Religionspolitik in Deutschland: „Die Koalitionsparteien würdigen das Wirken der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie sind wichtiger Teil unserer Zivilgesellschaft und Partner des Staates.“ Und weiter: „Auf Basis der christlichen Prägung unseres Landes setzen wir uns für ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt ein“ (165).

Zwei Beobachtungen lassen sich aus diesen allgemeingehaltenen Sätzen extrahieren: 1. Das kooperative Verhältnis von Staat und Religionen wird befürwortet; 2. Die exponierte Stellung des Christentums wird bekräftigt und als Ausgangspunkt betrachtet, um ein gleichberechtigtes Miteinander in Vielfalt zu gestalten.

Konkreter wird der Koalitionsvertrag an dieser Stelle nicht. Ohne die Interpretation all zu sehr zu strapazieren, kann man diese Aussage als ein Bekenntnis zum geltenden Religionsverfassungsrecht deuten, dass sich aus der historischen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche entwickelt hat. Auf dieser Grundlage soll ein gleichberechtigtes Miteinander in Vielfalt ermöglicht werden.

Das ist keine neue und keine strittige Agenda. Gegenwärtig spricht sich eine große Mehrheit der politischen Akteure für diesen Standpunkt aus. Er wird im Entwurf des Koalitionsvertrages allerdings nicht präzisiert und expliziert. Deshalb bleibt unklar, durch welche Strategien die Herausforderungen, die sich vor allem im Umgang mit der Heterogenität und den organisatorischen Besonderheiten der islamischen Religion in Deutschland seit Jahren abzeichnen, bewältigt werden sollen. Es wird nicht einmal geklärt, ob an den bisherigen Strategien und Einrichtungen festgehalten wird.

Islampolitik

Dies wird auch in den Passagen über den Islam und die Islampolitik nicht deutlicher. Dass die Islampolitik hier als separater Bereich von der Religionspolitik abgegrenzt wird, resultiert aus der Sonderstellung, die der islamischen Religion im Koalitionsvertrag zugewiesen wird.

Die Islampolitik der Bundesregierung, die sich bislang vor allem in der Deutschen Islam Konferenz (DIK) abspielt, wird unter dem Schlagwort „Prävention“ im Zusammenhang mit den nicht deutlich definierten Begriffen „islamistischer Extremismus und Terror“ sowie „radikaler Islam“ und „radikale Moscheen“ behandelt. Der Verzicht auf eine eindeutige Definition der Begriffe sowie des Begriffswechsel von „islamistisch“ zu „radikalem Islam“ weisen auf eine mangelnde konzeptionelle Klarheit hin, die ausgrenzende Effekte auf Muslime erzeugen können.

Zudem wird an dieser Einordnung der DIK eindeutig ersichtlich, dass die Islampolitik wieder verstärkt unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten verhandelt und die religionspolitische Integration des Islams – die vor allem in der DIK III unter Thomas De Maizère durch Projekte wie islamische Wohlfahrtspflege und Seelsorge ins Zentrum der Bemühungen gestellt worden waren – zurückgedrängt werden.

Fazit:

Im Entwurf des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD sind keine konstruktiven Lösungsvorschläge erkennbar, durch welche die Herausforderungen der Religionspolitik bearbeitet und bestehende Regelungen mit den Veränderungen in der Gesellschaft in Einklang gebracht werden können. Dies zeigt sich am deutlichsten an der Islampolitik. Dass es in der religionspolitischen Ausrichtung der Islampolitik noch immer anhaltende Herausforderungen gibt, wird fast täglich in den Medien – etwa anhand der Zusammensetzung von Beiräten für islamische Theologie oder islamischen Religionsunterricht – diskutiert. Die Regierung aus CDU, CSU und SPD begegnet diesen Aufgaben jedoch nicht mit innovativen, steuerungspolitischen Konzepten, sondern vermeidet komplexe Fragen und Positionierungen und zeichnet sich stattdessen durch eine begriffliche und inhaltliche Unschärfe aus.

„Ohne Unterschiede!“ – Nicht-Muslime fordern einen fairen Umgang mit Muslimen in Politik, Medien und Verwaltung

Hintergrund

Mit dem Bündnis „Ohne Unterschiede!“ haben sich Vertreter*innen aus Politik, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften zusammengeschlossen, um sich für einen fairen Umgang gegenüber Muslim*innen und dem Islam einzusetzen.

Das Bündnis gründet in der Beobachtung, dass sich in der deutschen Gesellschaft eine zunehmende Islamophobie ausbreite, durch die ein fairer Umgang mit Muslim*innen verhindert werde. Dies wirke sich sowohl sehr negativ auf die Öffnung von muslimischen Communities als auch auf das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben aus.
Die Initiatoren des Bündnisses wenden sich gegen eine solche Entwicklung und insistieren auf der Anwendung des Artikels 3 GG, wonach niemand wegen „seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf.

Interview mit Dr. Thomas M. Schimmel

Dr. Thomas M. Schimmel, Geschäftsführer von der „franziskanischen Initiative 1219. Religions- und Kulturdialog“, ist einer der Initiatoren des Bündnisses. Er erläutert im Interview die Motivationen, Entwicklungsprozesse und Ziele des Bündnisses „Ohne Unterschiede!“. Er erklärt, warum er sich für das Bündnis engagiert und es als Verantwortung der Gesamtgesellschaft begreift, sich gegen die Diskriminierung von Minderheiten einzusetzen.

Interview

Fülling: Herr Dr. Schimmel, was war die Motivation für das Bündnis von Nicht-Muslimen zur Förderung eines fairen Umgangs mit Menschen muslimischen Glaubens und des Islams?

Schimmel: Schon seit Langem beobachten wir unabhängig voneinander die Berichterstattung über den Islam und über Musliminnen und Muslime – und zwar mit wachsendem Unwohlsein. Sowohl in den Medien als auch in Interviews, bei öffentlichen Veranstaltungen und auch im persönlichen Umfeld sehen wir, wie undifferenziert und uninformiert diskutiert oder mit falschen Behauptungen Vorurteile und Ängste geschürt werden. Das ist Gift für das friedliche Zusammenleben in der pluralen Gesellschaft. Wir sehen hier die dringende Notwendigkeit, auf das Problem aufmerksam zu machen.

Fülling: Wer ist an dem Bündnis „Ohne Unterschiede!“ beteiligt und in welchem (organisatorischen) Rahmen haben sich die Initiatoren zusammengefunden?

Schimmel: Bernhard Heider, der Geschäftsführer von Leadership Berlin, hat uns zusammengebracht: Einen evangelischen Pfarrer, eine ehemalige Verfassungsschützerin, einen katholischen Politikwissenschaftler, ein Mitglied des humanistischen Verbandes und einen Richter am Landgericht. Alle auf unterschiedliche Art gesellschaftspolitisch engagiert. Es ist vorerst ein loser Zusammenschluss, der wächst – allerdings mit dem Ziel, effektiv das Problem der zunehmenden Islamophobie anzugehen.

Fülling: Wieso wurde das Bündnis explizit von Nicht-Muslimen ohne Partizipation von Musliminnen und Muslimen initiiert?

Schimmel: Wir wollten keine Lobbyarbeit für den Islam machen, sondern ein ernstes gesellschaftspolitisches Problem angehen. Wir wollten deutlich machen, dass wir dieses Problem nicht durch eine durch Eigeninteressen gefärbte Brille sehen. Natürlich sind Musliminnen und Muslime eingeladen mitzumachen – es ist uns aber wichtig, dass der Impuls nicht aus der muslimischen Community kommt.

Fülling: In der Erklärung wird gefordert, dass gerade im Bereich des Religiösen mit besonderem Respekt und gründlicher Differenzierung argumentiert wird. Wodurch unterscheidet sich der Bereich des Religiösen für Sie von anderen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens?

Schimmel: Das berühmte Zitat von Martin Niemöller ist leitend: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist (…)“. Als Bürger oder Bürgerin habe ich die Pflicht, mich schützend vor Minderheiten zu stellen, wenn sie diskriminiert und diffamiert werden. Seit 09/11 erleben wir, wie der Islam und Musliminnen und Muslime mehr und mehr unter Generalverdacht gestellt werden. Aktuelle Verlautbarungen aus AfD oder österreichischen Regierungskreisen belegen das zurzeit mal wieder fast täglich und was in den Foren und sozialen Medien los ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Wir sehen hier im Moment den dringendsten Handlungsbedarf und appellieren an Menschen, die sich öffentlich äußern – seien es Politiker*Innen, Journalist*innen oder Islamexpert*innen –  im Bereich des Religiösen sehr genau zu differenzieren und verantwortungsvoll zu agieren, um nicht Öl ins Feuer zu gießen. Wir wissen genau, wie schnell Stigmatisierung und Pogromstimmung entstehen kann. Das Differenzierungsgebot gilt natürlich auch für alle anderen gesellschaftlichen Bereiche – das ist zurzeit aber nicht unser Thema.

Fülling: Welches sind die Hauptforderungen des Bündnisses „Ohne Unterschiede?“

Schimmel: Dass die Dinge differenziert betrachtet werden: Es geht uns nicht um Kritiklosigkeit. Es geht uns um eine ausgewogene Berichterstattung, um eine faire Bewertung der Fakten, um allgemeinverständliche Erklärungen der Vorgänge und Problemlagen. Es sollte doch zum Beispiel nicht so sein, dass ständig selbsternannte, fachfremde und ortsunkundige Islamexper*innen immer das gleiche sagen, während die Betroffenen nicht befragt werden. Oder ein anderes Beispiel: Warum werden bei Meldungen zum Islam in der Regel Fotos von vollverschleierten Frauen gezeigt oder Muslime bei der Niederwerfung während des Gebets von Hinten, statt junge, freundliche Leute?

Fülling: An wen wird die Erklärung adressiert und was soll durch das Bündnis erreicht werden?

Schimmel: Wir wenden uns mit unserem Aufruf an alle gesellschaftlichen Gruppen – nicht nur an Journalist*innen oder an die Politik. Wir wollen ein breites Bewusstsein und eine Sensibilität für das Problem der Islamophobie wecken – so wie es ja zum Glück in unserer Gesellschaft ein Sensorium für Antisemitismus gibt.  Am Ende geht es uns um das friedliche Zusammenleben in unserer pluralen Gesellschaft, das ein hohes Gut – aber sehr zerbrechlich ist.

Islampolitik in Niedersachsen. Irritationen im Koalitionsvertrag

In Niedersachsen haben sich SPD und CDU auf einen Koalitionsvertrag verständigt. Unter der Überschrift „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ führen die Parteien ihre Positionen zur Religionspolitik in Niedersachsen aus.

Vorgeschichte

Öffentliches Interesse erregen vor allem die Absichtserklärungen zum Umgang mit der islamischen Religion. Denn in der letzten Legislaturperiode waren SPD und Bündnis 90/Die Grünen kurz davor gewesen, einen Vertrag mit islamischen Verbänden abzuschließen. Die damalige Landesregierung hat im Jahr 2013 Gespräche mit der SCHURA Niedersachsen und dem DITIB Landesverband Niedersachsen und Bremen e.V. aufgenommen, um einen Vertrag auszuhandeln. Das Ziel der Verhandlungen formulierten die Beteiligten darin, „Lösungsansätze für klärungsbedürftige Fragen im Integrationsprozess zu erarbeiten und die gefundenen Lösungen in einer Vereinbarung festzuhalten. Durch die angestrebte Vereinbarung soll auch herausgestellt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger islamischen Glaubens sich am religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben in Niedersachsen beteiligen“ (Niedersächsischer Landtag 2012: 37).

Der Vertrag sollte demnach der offiziellen Anerkennung der islamischen Gemeinschaften als eines aktiven Bestandteils des öffentlichen Lebens in Niedersachsen dienen. Bereits im Dezember 2012 erzielten die Akteure in ihren Verhandlungen eine Vereinbarung zur „muslimischen Seelsorge im Justizvollzug“ (Niedersächsisches Justizministerium 2012: 1). Niedersachsen holte zur Prüfung darüber, ob die Vertragspartner als Religionsgemeinschaften nach Art. 7 Abs. 3 GG gelten können, ein religionswissenschaftliches und ein rechtliches Gutachten ein. Beide Gutachten kamen zu einem positiven Ergebnis.

Dennoch wurde der Vertrag in der vergangenen Legislaturperiode nicht abgeschlossen, da die Beziehungen der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) zur Türkei in die Kritik gerieten. Die CDU-Landtagsfraktion beschloss am 02. August einstimmig, die Verhandlungen mit DITIB aufgrund „mangelnder Staatsferne“ des Vereins zum türkischen Staat abzubrechen. Nach anhaltender Kritik gab die Landesregierung im Januar 2017 bekannt, dass die Vertragsverhandlungen bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode ausgesetzt werden.

Bewegung im aktuellen Vertrag

Im aktuellen Koalitionsvertrag haben sich SPD und CDU darauf geeinigt, die Gespräche wieder aufzunehmen. Als Ziel dieser Gespräche wird die „Entwicklung eines Formats der Zusammenarbeit, das einerseits der besonderen Verfasstheit der muslimischen Organisationen gerecht wird und andererseits die Gewähr dafür bietet, dass der mit dem Vertragsschluss seinerzeit angestrebte Zweck erreicht wird, sei es durch einen Vertrag, sei es auf vergleichbare andere Weise“ (SPD/CDU 2017: 22) benannt.

Irritationen

Für eine voranschreitende religionsrechtliche Integration der islamischen Religionsgemeinschaften ist es erfreulich, dass sich die CDU offen für Gespräche und Vereinbarungen zeigt – auch wenn abzuwarten bleibt, wie eine Verständigung  zwischen CDU und DITIB gelingen kann.
Irritierend ist jedoch, wie die zukünftigen Prozesse der Auseinandersetzung im Koalitionsvertrag tituliert werden – nämlich als „interreligiöser Dialog“. Im Koalitionsvertrag steht explizit: „SPD und CDU werden anknüpfend an die zum Abschluss eines Vertrages mit den muslimischen Verbänden geführten Gespräche aus der abgelaufenen Wahlperiode den interreligiösen Dialog fortsetzen“ (ebd.).

Ein interreligiöser Dialog kann jedoch nur zwischen Religionsgemeinschaften stattfinden. Regierungsparteien können einen interreligiösen Austausch befürworten, ihn sogar fördern, sich aber nicht in die inhaltliche Ausgestaltung eines solchen Dialogs einmischen.

Wolfgang Schäuble hat dies im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz herausgestellt und zurecht darauf hingewiesen, dass „es nicht in der Macht der Politik und der Politiker [steht], das tatsächliche Miteinander und Zusammenleben der Religionen zu gestalten. Das müssen die Menschen selbst tun. Die Aufgabe und Verantwortung der Regierung besteht darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es allen religiösen Gruppen optimal ermöglichen, sich in das gesellschaftliche und politische Leben einzubringen“ (Schäuble 2009).

Genau das sollte auch Aufgabe der niedersächsischen Landesregierung sein. Das Missverständnis, die Diskussionsprozesse zwischen der Landesregierung und den muslimischen Kooperationspartnern als interreligiösen Dialog zu bezeichnen, sollte behoben werden, da ansonsten eine unzulässige Identifikation der Landesregierung mit einer religiösen Position angedeutet wird, die dem Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zu wider läuft.

 

Literatur

Niedersächsischer Landtag: Antwort auf die Große Anfrage: Muslimisches Leben in Niedersachsen. Drucksache 16/5434, 2012. Auf: https://www.fraktion.gruene- niedersachsen.de/fileadmin/docs/fraktion/plenarinitiativen/ Grosse_Anfrage_muslimisches_leben_nds.pdf, Stand: 21.11.2017.

Niedersächsisches Justizministerium: Justizminister Busemann unterzeichnet Vereinbarung zwischen den muslimischen Landesverbänden und dem Justizminister zur muslimischen

Seelsorge im Justizvollzug, Hannover 18.12.2012. Auf: http://www.mj.niedersachsen.de/ portal/live.php?navigation_id=3745& article_id=111512&_psmand=13, Stand: 20.10.2014.

Schäuble, Wolfgang: Das Miteinander der Religionen in Deutschland und Europa. Rede anlässlich des Besuchs der Kairo Universität, 21.06.2009. Auf: http://www.wolfgang- schaeuble.de/das-miteinander-der-religionen-in-deutschland-und- europa/, Stand: 23.05.2017

SPD/CDU: Gemeinsam für ein modernes Niedersachsen. Für Innovation, Sicherheit und Zusammenhalt. Für die 18. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtages 2017 bis 2022. Auf: https://www.ndr.de/home/niedersachsen/groko230.pdf, Stand: 21.11.2017.

Muslimischer Feiertag – Blitzlichter einer Scheindebatte

Der Auslöser

Thomas de Maizière hat in seiner Rede zur deutschen Leitkultur in Wolfenbüttel am 09. Oktober 2017 die jüdisch-christliche Prägung Deutschlands nachdrücklich herausgestellt. Er hat die Meinung vertreten, dass die Bundesrepublik in außergewöhnlichem Maße christlich geprägt ist – was sich sowohl in der herausragenden Rolle der christlichen Wohlfahrtsverbände zeige, als auch durch die Sonn- und Feiertage, durch die das Christentum den gesamten Lebensrhythmus der Deutschen entscheidend präge. Zusätzlich macht de Maizière bei seinem Auftritt in Niedersachsen mehr als einmal deutlich, dass er sich wünscht, dass das auch so bleibt.

Allerdings zieht er in diesem Zusammenhang zusätzlich in Erwägung, dass in solchen Regionen, in denen sehr viele Muslime leben, über die Einführung eines muslimischen Feiertags nachgedacht werden könnte. Diese theoretische Möglichkeit ergänzt er jedoch unmittelbar durch die Zusicherung, dass die Feiertage in Deutschland generell christlich geprägt sind und betont noch einmal, dass das auch so bleiben solle.

Debatten erwünscht

Aus diesem Versuch von de Maizière, seine Vorstellungen von einer deutschen Leitkultur vorsichtig mit der gesellschaftlichen Diversität zu kombinieren, hat sich eine Debatte über die Zulässigkeit muslimischer Feiertage in Deutschland entwickelt.

Eine Debatte die nicht darüber räsoniert, wie viel christliche Prägung die Gesellschaft wirklich noch besitzt: Ob sich unser kollektives Gedächtnis noch an die Sinngehalte christlicher Feiertage erinnern kann? Oder ob die Bedeutung christlicher Feiertage stattdessen für viele Menschen nur noch zwischen der äußeren Symbolik einer nationalen kulturellen Identität und einer gern genutzten Möglichkeit zur zusätzlichen Freizeitgestaltung oszilliert?

De Maizières Rede enthält einiges an Potential für kritische Nachfragen, für Debatten über gesellschaftliche Umbrüche und Umwertungen, doch nur ein Aspekt seiner Worte hat Karriere in der gesellschaftspolitischen Öffentlichkeit in Deutschland gemacht: seine kurze Bemerkung zu den muslimischen Feiertagen. De Maizière wurde für diese Aussage von vielen Politikern sowohl aus den eigenen sowie aus anderen Parteien scharf kritisiert. Öffentlichen Applaus hat er dafür auch nicht von deutschen Muslimen erhalten. Denn auch diese identifizieren einen muslimischen Feiertag nicht als vordringliches  Anliegen und haben dementsprechend auch keinen Antrag auf einen gesetzlichen muslimischen Feiertag gestellt.

Entgleisung der Debatte

Dennoch wurde in den nachfolgenden öffentlichen Debatten vielfach über die (Un)Zulässigkeit eines muslimischen Feiertags diskutiert. Hierdurch wurde das Gefühl einer vermeintlichen Islamisierung der Gesellschaft verstärkt, das christliche Erbe der deutschen Kultur neuerlich beschworen und der Narration von einem „christlichen Wir“ dem ein „muslimisches Anderes“ gegenübersteht verstärkt. Im bayerischen Landtag gipfelte die Debatte in einem Dringlichkeitsantrag zur Bewahrung der Feiertagskultur, der führend von der CSU-Fraktion gestellt wurde.

Der Antrag spricht sich gegen die Einführung eines muslimischen Feiertags und für die Bewahrung der christlichen Feiertagskultur aus. Der Antrag speist sich damit einzig aus der kurzen Bemerkung de Maizières in Wolfenbüttel und lässt eine durchdringende Haltung gegen Veränderung durch gesellschaftliche Diversität erkennen. Der Staatssekretär Gerhard Eck (CSU) fasst die Position des Antrags in prägnanten Worten zusammen: „Wir wollen keine Veränderungen in diesem Land“ (Bayerischer Landtag – vorläufiges Plenarprotokoll 17/114 v. 25.10.2017, 34).

Kommentar

Die Debatte über das Phantom eines muslimischen Feiertags zeigt, wie emotional um kulturelle Identität gerungen wird und wie schnell sich solche Diskussionen vom sachlichen Gegenstand entfernen und zur ausgrenzenden Parole werden können. Ein Land das Veränderungen grundsätzlich ablehnt, kann den Herausforderungen einer dynamischen Gesellschaft nicht konstruktiv begegnen.

An dem Ausspruch des Staatssekretärs im bayerischen Landtag wird ein Kulturverständnis sichtbar, das nicht auf kultivieren, sondern auf konservieren von kollektiven Praktiken setzt. Kulturen sind aber kein überzeitlicher Besitz. Im weiten Sinn bezeichnen sie vielmehr alles, was Menschen selbstgestaltend hervorbringen (vgl. Prechtl/Burkhard: Metzler Philosophie Lexikon, Stuttgart/Weimar 1999). Kulturen befinden sich aus diesem Grund immer in Bewegung. Man kann sie nicht hermetisch abriegeln und gegen Veränderungen abschirmen.

Gegenwärtig ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über einen gesetzlichen muslimischen Feiertag zu diskutieren. Aus diesem Grund haben auch alle Parteien und viele Bürger*innen abwehrend auf diese Möglichkeit reagiert. Es ist allerdings noch weniger die Zeit, um eine solche Debatte künstlich aufzubauschen, identitäre Stimmungen zu nähren und potenzielle gesellschaftliche Neuerungen prinzipiell abzulehnen.

Vielmehr ist es Zeit dafür, sich mit kulturellen Vorstellungen, Traditionen und Wertbindungen reflektierend, unter Einbeziehung gesellschaftlicher Veränderungen, auseinanderzusetzen, der Prüfung standhaltende Elemente und Wertbindungen aktiv zu kommunizieren und zu praktizieren und Menschen auf diese Weise dazu einzuladen, Wertbindungen dazu aufzubauen.

Wozu Religionspolitik? Zur Erläuterung des anhaltenden Regelungsbedarfs in der Religionspolitik

Die Analysen der Wohlprogramme vom CDU/CSU, SPD, Die Linke, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und AfD für die Bundestagswahl 2017 haben ergeben, dass der Aspekt „Religion“ die politischen Agenden der Parteien entscheidend mitbestimmt.
Dieses Agenda Setting lässt sich mit dem provokanten Hinweis des Verfassungsrechtlers Ernst Wolfgang Böckenförde, dass „mit der Anerkennung der Religionsfreiheit im Grundgesetz alles Notwendige zum Verhältnis von Staat und Religion gesagt“ ist (Böckenförde 2000: 173), allerdings kritisch in Frage stellen. Wieso also gibt es in diesem Politikfeld trotz der religionsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetz immer wieder neuen Regelungsbedarf?

Anders als es Böckenfördes zugespitzte Aussage andeutet, besteht das deutsche Religionsverfassungsrecht nicht allein aus der Religions-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit, sondern auch aus den § 136-141 der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die in den §140 des Grundgesetzes aufgenommen wurden. Darin werden nicht nur Trennungslinien zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, sondern auch zahlreiche Verbindungspunkte fixiert, aus denen sich eine komplexe Gemengelage bezüglich des Verhältnisses von Religion und Politik ergibt. Aktuell erzeugen vor allem der Umgang mit religiöser Vielfalt und der Zunahme von konfessionslosen Bürger*innen politischen Regelungsbedarf. Dies kann in den Wahlprogrammen vor allem durch die politischen Steuerungsvorschläge nachvollzogen werden, welche die Parteien zur religionspolitischen Integration der islamischen Religion oder im Umgang mit Herausforderungen von religionsaffinen Konflikten, wie religiösem Extremismus, einführen.

Hierbei steht zuletzt auch die Aktualität der religionspolitischen Regelungen, die bis vor wenigen Jahren noch als Staatskirchenrecht firmierten, selbst zur Diskussion. Ulrich Willems, Politikwissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, bewertet eine öffentliche Debatte über das Religionsverfassungsrecht aus diesen Gründen als wichtigen Baustein, um die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber der Religionspolitik zu erhöhen. Er beobachtet eine Schlagseite zugunsten der christlichen Politik, die sich aus der Entstehung des Religionsverfassungsrechts im Rahmen der historischen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche entwickelt habe und insofern eine kollektive religiöse und kulturelle Identität gegenüber anderen religiösen und weltanschaulichen Formen bevorzuge (Willems 2012: 138-140). Willems fordert eine offene Diskussion in der Schieflagen besprochen und eine Kultur der Verständigung etabliert werden könne.

Setzt man in einem solchen Regelungsfall allerdings auf das Mehrheitsprinzip und versucht – etwa durch Volksabstimmungen – neue Steuerungsprinzipien zu schaffen, kann sich diese Absicht ins Gegenteil verkehren und zur Einschränkung von Minderheitenrechten führen. Dieser Fall lässt sich am Schweizer Minarettverbot studieren. Obwohl der Nationalrat mehrheitlich empfohlen hatte, die Kampagne „Gegen den Bau von Minaretten“ abzulehnen und der Bundesrat herausgestellt hatte, dass die Initiative die Glaubens- und Gewissensfreiheit verletze, wies das amtliche Endergebnis eine größere Zustimmungsquote für die Kampagne auf, so dass die Rechte von muslimischen Gläubigen in der Schweiz eingeschränkt wurden.

Die Gefahr solcher gesellschaftlicher Polarisierungsprozesse, die Unruhen auslösen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden können, mag eine Ursache dafür sein, warum die politischen Parteien bislang (auch intern) eine offene Auseinandersetzung über ihre religionspolitische Ausrichtung scheuen. Einzig Bündnis 90/Die Grünen haben mit der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ einen intensiven Arbeitsprozess über die religionspolitische Ausrichtung ihrer Partei initiiert.

Ist die insgesamt zögerliche Bereitschaft der Parteien, eine grundsätzliche Debatte über das gültige Religionsverfassungsrechts zu führen, auch dadurch zu erklären, dass viele Politiker trotz veränderter gesellschaftlicher Realitäten die gültigen Bestimmungen des Religionsverfassungsrechts für gut und ausreichend anschlussfähig bewerten? Auf diesen Erklärungsansatz deuten viele Stellungnahmen sowohl von Politikern als auch von Experten hin. So schreibt Peter Unruh im „Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System“, dass „[d]as Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes […] nach wie vor ein auch im internationalen Vergleich hohes Integrationspotential zur Verfügung [stellt]“ (Unruh 2015: 761).

Diese Haltung findet sich auch in den untersuchten Wahlprogrammen wieder. So bekennt sich die SPD zu den bestehenden Regelungen und konzentriert sich auf deren Verwaltung. Sie fasst zudem zusätzlich – wie auch die Grünen – ihre Anwendung auf andere Religionen, insbesondere auf die islamische Religion, ins Auge und spricht sich in diesem Zusammenhang für islamische Theologie an staatlichen Universitäten aus.

Bei Bündnis 90/Die Grünen deutet sich überdies, durch die Forderung nach Ablösungen der Staatsleistungen an die Kirchen, eine leichte Tendenz für eine stärkere Separation von Staat und Kirche an. Diese wird im Wahlprogramm jedoch nicht weiter verfolgt.

Anders stellt sich dies im Wahlprogramm der Linkspartei dar. Sie strebt grundsätzliche Änderungen des Religionsverfassungsrechts an und fordert eine stärkere Trennung von Religion und Politik. Hierdurch würde die aktuell praktizierte Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften beendet und durch eine laizistische Trennung der beiden Bereiche ersetzt. Diese Umgestaltung scheint jedoch weniger auf partizipativen Diskussionen, sondern eher auf einem vorgefassten Weltbild zu basieren.

Die FDP sparrt diese Auseinandersetzung im aktuellen Wahlprogramm nahezu vollständig aus.

CDU/CSU klassifizieren die staatliche Zusammenarbeit mit den Kirchen als gewinnbringend, bewerten jedoch die Kooperationen mit Vertretern der islamischen Religion primär als problematisch und konfliktreich. Hierin deutet sich keine Abkehr von der kooperativ ausgerichteten Religionspolitik, sondern vielmehr eine Gefährdung der weltanschaulichen Neutralität des Staates an. Letztere begründet sich dadurch, dass die Unionsparteien eine Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Religionen in ihrem Regierungsprogramm einführen.

Die AfD beschränkt sich in ihrem Wahlprogramm auf die vermeintlich problematischen Auswirkungen der Kooperationen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Sie führt diese in Bezug auf die islamische Religion aus. Die AfD stellt hierbei vermeintliche Gefahren im Zusammenhang mit der islamischen Religion heraus und fordert stärkere Restriktionen für die Religionsausübung von Muslimen. Auf diese Weise gibt die AfD das zentrale Prinzip der Religionsfreiheit preis.

Obwohl die Bestimmungen des Religionsverfassungsrechts nicht in allen Wahl- und Regierungsprogrammen explizit befürwortet und in anderen sogar abgelehnt werden, deutet sich in den Parteien kaum eine offene Auseinandersetzung über die grundsätzliche Ausrichtung und die Prinzipien der Religionspolitik in Deutschland an. Eine solche Auseinandersetzung würde nicht notwendigerweise Änderungen der gültigen Regelungen implizieren, sondern könnte auch dazu beitragen, den funktionalen Wert bestehender Prinzipien neu zu erkennen und zu festigen. Ein sachlicher Diskussionsprozess könnte zu mehr Klarheit und Eindeutigkeit in der Religionspolitik beitragen. Dass ein solcher Bedarf existiert, wird an den zahlreichen Problembeschreibungen in den Wahl- und Regierungsprogrammen sowie durch die abweichenden Zielsetzungen der religionspolitischen Agenden der verschiedenen Parteien deutlich. Damit eine solche Diskussion den gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt sowie die zivilgesellschaftliche Partizipation stärkt, muss der Rahmen für solche Diskussionen sorgsam abgewogen, kooperativ gestaltet und zudem gewährleistet werden, dass gesellschaftliche Minderheiten vor Einschränkungen und Übergriffen durch Mehrheitsbeschlüsse geschützt werden.

 

 

Literatur:

Böckenförde, Wolfgang-Ernst: Notwendigkeit und Grenzen staatlicher Religionspolitik. In: Thierse, Wolfgang (Hg.): Religion ist keine Privatsache, Düsseldorf 2000, 173-184.

Unruh, Peter: Das Bundesverfassungsgericht und das Religionsverfassungsrecht. In: Van Ooyen, Robert Chr./ Möllers, Martin H.W. (Hg.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Auflage, Wiesbaden 2015, 759-784.

Willems, Ulrich: Religionsfreiheit und Religionspolitik im Zeitalter religiöser und kultureller Pluralität. Ein Plädoyer für einen neuen religionspolitischen modus vivendi und modus procedendi. In: Bogner, Daniel/ Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Freiheit – Gleichheit – Religion. Orientierung moderner Religionspolitik, Würzburg 2012, 134-151.