Islampolitik in Niedersachsen. Irritationen im Koalitionsvertrag

In Niedersachsen haben sich SPD und CDU auf einen Koalitionsvertrag verständigt. Unter der Überschrift „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ führen die Parteien ihre Positionen zur Religionspolitik in Niedersachsen aus.

Vorgeschichte

Öffentliches Interesse erregen vor allem die Absichtserklärungen zum Umgang mit der islamischen Religion. Denn in der letzten Legislaturperiode waren SPD und Bündnis 90/Die Grünen kurz davor gewesen, einen Vertrag mit islamischen Verbänden abzuschließen. Die damalige Landesregierung hat im Jahr 2013 Gespräche mit der SCHURA Niedersachsen und dem DITIB Landesverband Niedersachsen und Bremen e.V. aufgenommen, um einen Vertrag auszuhandeln. Das Ziel der Verhandlungen formulierten die Beteiligten darin, „Lösungsansätze für klärungsbedürftige Fragen im Integrationsprozess zu erarbeiten und die gefundenen Lösungen in einer Vereinbarung festzuhalten. Durch die angestrebte Vereinbarung soll auch herausgestellt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger islamischen Glaubens sich am religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben in Niedersachsen beteiligen“ (Niedersächsischer Landtag 2012: 37).

Der Vertrag sollte demnach der offiziellen Anerkennung der islamischen Gemeinschaften als eines aktiven Bestandteils des öffentlichen Lebens in Niedersachsen dienen. Bereits im Dezember 2012 erzielten die Akteure in ihren Verhandlungen eine Vereinbarung zur „muslimischen Seelsorge im Justizvollzug“ (Niedersächsisches Justizministerium 2012: 1). Niedersachsen holte zur Prüfung darüber, ob die Vertragspartner als Religionsgemeinschaften nach Art. 7 Abs. 3 GG gelten können, ein religionswissenschaftliches und ein rechtliches Gutachten ein. Beide Gutachten kamen zu einem positiven Ergebnis.

Dennoch wurde der Vertrag in der vergangenen Legislaturperiode nicht abgeschlossen, da die Beziehungen der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) zur Türkei in die Kritik gerieten. Die CDU-Landtagsfraktion beschloss am 02. August einstimmig, die Verhandlungen mit DITIB aufgrund „mangelnder Staatsferne“ des Vereins zum türkischen Staat abzubrechen. Nach anhaltender Kritik gab die Landesregierung im Januar 2017 bekannt, dass die Vertragsverhandlungen bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode ausgesetzt werden.

Bewegung im aktuellen Vertrag

Im aktuellen Koalitionsvertrag haben sich SPD und CDU darauf geeinigt, die Gespräche wieder aufzunehmen. Als Ziel dieser Gespräche wird die „Entwicklung eines Formats der Zusammenarbeit, das einerseits der besonderen Verfasstheit der muslimischen Organisationen gerecht wird und andererseits die Gewähr dafür bietet, dass der mit dem Vertragsschluss seinerzeit angestrebte Zweck erreicht wird, sei es durch einen Vertrag, sei es auf vergleichbare andere Weise“ (SPD/CDU 2017: 22) benannt.

Irritationen

Für eine voranschreitende religionsrechtliche Integration der islamischen Religionsgemeinschaften ist es erfreulich, dass sich die CDU offen für Gespräche und Vereinbarungen zeigt – auch wenn abzuwarten bleibt, wie eine Verständigung  zwischen CDU und DITIB gelingen kann.
Irritierend ist jedoch, wie die zukünftigen Prozesse der Auseinandersetzung im Koalitionsvertrag tituliert werden – nämlich als „interreligiöser Dialog“. Im Koalitionsvertrag steht explizit: „SPD und CDU werden anknüpfend an die zum Abschluss eines Vertrages mit den muslimischen Verbänden geführten Gespräche aus der abgelaufenen Wahlperiode den interreligiösen Dialog fortsetzen“ (ebd.).

Ein interreligiöser Dialog kann jedoch nur zwischen Religionsgemeinschaften stattfinden. Regierungsparteien können einen interreligiösen Austausch befürworten, ihn sogar fördern, sich aber nicht in die inhaltliche Ausgestaltung eines solchen Dialogs einmischen.

Wolfgang Schäuble hat dies im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz herausgestellt und zurecht darauf hingewiesen, dass „es nicht in der Macht der Politik und der Politiker [steht], das tatsächliche Miteinander und Zusammenleben der Religionen zu gestalten. Das müssen die Menschen selbst tun. Die Aufgabe und Verantwortung der Regierung besteht darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es allen religiösen Gruppen optimal ermöglichen, sich in das gesellschaftliche und politische Leben einzubringen“ (Schäuble 2009).

Genau das sollte auch Aufgabe der niedersächsischen Landesregierung sein. Das Missverständnis, die Diskussionsprozesse zwischen der Landesregierung und den muslimischen Kooperationspartnern als interreligiösen Dialog zu bezeichnen, sollte behoben werden, da ansonsten eine unzulässige Identifikation der Landesregierung mit einer religiösen Position angedeutet wird, die dem Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zu wider läuft.

 

Literatur

Niedersächsischer Landtag: Antwort auf die Große Anfrage: Muslimisches Leben in Niedersachsen. Drucksache 16/5434, 2012. Auf: https://www.fraktion.gruene- niedersachsen.de/fileadmin/docs/fraktion/plenarinitiativen/ Grosse_Anfrage_muslimisches_leben_nds.pdf, Stand: 21.11.2017.

Niedersächsisches Justizministerium: Justizminister Busemann unterzeichnet Vereinbarung zwischen den muslimischen Landesverbänden und dem Justizminister zur muslimischen

Seelsorge im Justizvollzug, Hannover 18.12.2012. Auf: http://www.mj.niedersachsen.de/ portal/live.php?navigation_id=3745& article_id=111512&_psmand=13, Stand: 20.10.2014.

Schäuble, Wolfgang: Das Miteinander der Religionen in Deutschland und Europa. Rede anlässlich des Besuchs der Kairo Universität, 21.06.2009. Auf: http://www.wolfgang- schaeuble.de/das-miteinander-der-religionen-in-deutschland-und- europa/, Stand: 23.05.2017

SPD/CDU: Gemeinsam für ein modernes Niedersachsen. Für Innovation, Sicherheit und Zusammenhalt. Für die 18. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtages 2017 bis 2022. Auf: https://www.ndr.de/home/niedersachsen/groko230.pdf, Stand: 21.11.2017.

Wozu Religionspolitik? Zur Erläuterung des anhaltenden Regelungsbedarfs in der Religionspolitik

Die Analysen der Wohlprogramme vom CDU/CSU, SPD, Die Linke, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und AfD für die Bundestagswahl 2017 haben ergeben, dass der Aspekt „Religion“ die politischen Agenden der Parteien entscheidend mitbestimmt.
Dieses Agenda Setting lässt sich mit dem provokanten Hinweis des Verfassungsrechtlers Ernst Wolfgang Böckenförde, dass „mit der Anerkennung der Religionsfreiheit im Grundgesetz alles Notwendige zum Verhältnis von Staat und Religion gesagt“ ist (Böckenförde 2000: 173), allerdings kritisch in Frage stellen. Wieso also gibt es in diesem Politikfeld trotz der religionsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetz immer wieder neuen Regelungsbedarf?

Anders als es Böckenfördes zugespitzte Aussage andeutet, besteht das deutsche Religionsverfassungsrecht nicht allein aus der Religions-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit, sondern auch aus den § 136-141 der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die in den §140 des Grundgesetzes aufgenommen wurden. Darin werden nicht nur Trennungslinien zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, sondern auch zahlreiche Verbindungspunkte fixiert, aus denen sich eine komplexe Gemengelage bezüglich des Verhältnisses von Religion und Politik ergibt. Aktuell erzeugen vor allem der Umgang mit religiöser Vielfalt und der Zunahme von konfessionslosen Bürger*innen politischen Regelungsbedarf. Dies kann in den Wahlprogrammen vor allem durch die politischen Steuerungsvorschläge nachvollzogen werden, welche die Parteien zur religionspolitischen Integration der islamischen Religion oder im Umgang mit Herausforderungen von religionsaffinen Konflikten, wie religiösem Extremismus, einführen.

Hierbei steht zuletzt auch die Aktualität der religionspolitischen Regelungen, die bis vor wenigen Jahren noch als Staatskirchenrecht firmierten, selbst zur Diskussion. Ulrich Willems, Politikwissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, bewertet eine öffentliche Debatte über das Religionsverfassungsrecht aus diesen Gründen als wichtigen Baustein, um die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber der Religionspolitik zu erhöhen. Er beobachtet eine Schlagseite zugunsten der christlichen Politik, die sich aus der Entstehung des Religionsverfassungsrechts im Rahmen der historischen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche entwickelt habe und insofern eine kollektive religiöse und kulturelle Identität gegenüber anderen religiösen und weltanschaulichen Formen bevorzuge (Willems 2012: 138-140). Willems fordert eine offene Diskussion in der Schieflagen besprochen und eine Kultur der Verständigung etabliert werden könne.

Setzt man in einem solchen Regelungsfall allerdings auf das Mehrheitsprinzip und versucht – etwa durch Volksabstimmungen – neue Steuerungsprinzipien zu schaffen, kann sich diese Absicht ins Gegenteil verkehren und zur Einschränkung von Minderheitenrechten führen. Dieser Fall lässt sich am Schweizer Minarettverbot studieren. Obwohl der Nationalrat mehrheitlich empfohlen hatte, die Kampagne „Gegen den Bau von Minaretten“ abzulehnen und der Bundesrat herausgestellt hatte, dass die Initiative die Glaubens- und Gewissensfreiheit verletze, wies das amtliche Endergebnis eine größere Zustimmungsquote für die Kampagne auf, so dass die Rechte von muslimischen Gläubigen in der Schweiz eingeschränkt wurden.

Die Gefahr solcher gesellschaftlicher Polarisierungsprozesse, die Unruhen auslösen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden können, mag eine Ursache dafür sein, warum die politischen Parteien bislang (auch intern) eine offene Auseinandersetzung über ihre religionspolitische Ausrichtung scheuen. Einzig Bündnis 90/Die Grünen haben mit der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ einen intensiven Arbeitsprozess über die religionspolitische Ausrichtung ihrer Partei initiiert.

Ist die insgesamt zögerliche Bereitschaft der Parteien, eine grundsätzliche Debatte über das gültige Religionsverfassungsrechts zu führen, auch dadurch zu erklären, dass viele Politiker trotz veränderter gesellschaftlicher Realitäten die gültigen Bestimmungen des Religionsverfassungsrechts für gut und ausreichend anschlussfähig bewerten? Auf diesen Erklärungsansatz deuten viele Stellungnahmen sowohl von Politikern als auch von Experten hin. So schreibt Peter Unruh im „Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System“, dass „[d]as Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes […] nach wie vor ein auch im internationalen Vergleich hohes Integrationspotential zur Verfügung [stellt]“ (Unruh 2015: 761).

Diese Haltung findet sich auch in den untersuchten Wahlprogrammen wieder. So bekennt sich die SPD zu den bestehenden Regelungen und konzentriert sich auf deren Verwaltung. Sie fasst zudem zusätzlich – wie auch die Grünen – ihre Anwendung auf andere Religionen, insbesondere auf die islamische Religion, ins Auge und spricht sich in diesem Zusammenhang für islamische Theologie an staatlichen Universitäten aus.

Bei Bündnis 90/Die Grünen deutet sich überdies, durch die Forderung nach Ablösungen der Staatsleistungen an die Kirchen, eine leichte Tendenz für eine stärkere Separation von Staat und Kirche an. Diese wird im Wahlprogramm jedoch nicht weiter verfolgt.

Anders stellt sich dies im Wahlprogramm der Linkspartei dar. Sie strebt grundsätzliche Änderungen des Religionsverfassungsrechts an und fordert eine stärkere Trennung von Religion und Politik. Hierdurch würde die aktuell praktizierte Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften beendet und durch eine laizistische Trennung der beiden Bereiche ersetzt. Diese Umgestaltung scheint jedoch weniger auf partizipativen Diskussionen, sondern eher auf einem vorgefassten Weltbild zu basieren.

Die FDP sparrt diese Auseinandersetzung im aktuellen Wahlprogramm nahezu vollständig aus.

CDU/CSU klassifizieren die staatliche Zusammenarbeit mit den Kirchen als gewinnbringend, bewerten jedoch die Kooperationen mit Vertretern der islamischen Religion primär als problematisch und konfliktreich. Hierin deutet sich keine Abkehr von der kooperativ ausgerichteten Religionspolitik, sondern vielmehr eine Gefährdung der weltanschaulichen Neutralität des Staates an. Letztere begründet sich dadurch, dass die Unionsparteien eine Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Religionen in ihrem Regierungsprogramm einführen.

Die AfD beschränkt sich in ihrem Wahlprogramm auf die vermeintlich problematischen Auswirkungen der Kooperationen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Sie führt diese in Bezug auf die islamische Religion aus. Die AfD stellt hierbei vermeintliche Gefahren im Zusammenhang mit der islamischen Religion heraus und fordert stärkere Restriktionen für die Religionsausübung von Muslimen. Auf diese Weise gibt die AfD das zentrale Prinzip der Religionsfreiheit preis.

Obwohl die Bestimmungen des Religionsverfassungsrechts nicht in allen Wahl- und Regierungsprogrammen explizit befürwortet und in anderen sogar abgelehnt werden, deutet sich in den Parteien kaum eine offene Auseinandersetzung über die grundsätzliche Ausrichtung und die Prinzipien der Religionspolitik in Deutschland an. Eine solche Auseinandersetzung würde nicht notwendigerweise Änderungen der gültigen Regelungen implizieren, sondern könnte auch dazu beitragen, den funktionalen Wert bestehender Prinzipien neu zu erkennen und zu festigen. Ein sachlicher Diskussionsprozess könnte zu mehr Klarheit und Eindeutigkeit in der Religionspolitik beitragen. Dass ein solcher Bedarf existiert, wird an den zahlreichen Problembeschreibungen in den Wahl- und Regierungsprogrammen sowie durch die abweichenden Zielsetzungen der religionspolitischen Agenden der verschiedenen Parteien deutlich. Damit eine solche Diskussion den gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt sowie die zivilgesellschaftliche Partizipation stärkt, muss der Rahmen für solche Diskussionen sorgsam abgewogen, kooperativ gestaltet und zudem gewährleistet werden, dass gesellschaftliche Minderheiten vor Einschränkungen und Übergriffen durch Mehrheitsbeschlüsse geschützt werden.

 

 

Literatur:

Böckenförde, Wolfgang-Ernst: Notwendigkeit und Grenzen staatlicher Religionspolitik. In: Thierse, Wolfgang (Hg.): Religion ist keine Privatsache, Düsseldorf 2000, 173-184.

Unruh, Peter: Das Bundesverfassungsgericht und das Religionsverfassungsrecht. In: Van Ooyen, Robert Chr./ Möllers, Martin H.W. (Hg.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Auflage, Wiesbaden 2015, 759-784.

Willems, Ulrich: Religionsfreiheit und Religionspolitik im Zeitalter religiöser und kultureller Pluralität. Ein Plädoyer für einen neuen religionspolitischen modus vivendi und modus procedendi. In: Bogner, Daniel/ Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Freiheit – Gleichheit – Religion. Orientierung moderner Religionspolitik, Würzburg 2012, 134-151.

Religionspolitik im Bundestagswahlkampf 2017 – Teil 2: Regierungsprogramm der SPD

Im TV-Duell hat der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, die Position vertreten, dass die islamische Religion als eine Religion neben anderen in Deutschland behandelt werden sollte. Demnach müsste die SPD ihre Islampolitik primär als Religions- und weniger als Immigrations- und Sicherheitspolitik konstituieren.

Zugleich hat Schulz gefordert, Hassprediger zu stoppen und entsprechende Moscheen zu schließen. Durch eine Analyse der Religionspolitik im SPD-Regierungsprogramm kann überprüft werden, ob die Angaben aus dem TV-Duell mit dem Programm übereinstimmen und zudem herausgestellt werden, welche religionspolitische Agenda die SPD für die kommende Legislaturperiode vertritt.

Im Regierungsprogramm findet sich kein separater Abschnitt zur Religionspolitik. Der Aspekt „Religion“ wird in verschiedenen Teilabschnitten thematisiert.
So werden in dem Oberkapitel „Es ist Zeit für eine offene und moderne Gesellschaft“ die Leistungen „vieler Freiwilliger, aber auch von Menschen in Verwaltung, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Initiativen und Vereinen“(79) gerade in Bezug auf die Aufnahme und den Umgang von neu hinzugezogenen Personen in Deutschland würdigend hervorgehoben und zudem ihr Engagement gegen Rassismus als wichtige Leistungen für die Gesellschaft klassifiziert (Seite 79f.).

Integration und Teilhabe

In dem Unterkapitel „Integration und Teilhabe – die deutsche Einwanderungsgesellschaft gestalten“ wird der interreligiöse Dialog ausgezeichnet, da er das Wissen über Religionen sowie Begegnungen zwischen verschiedenen Religionen fördere und auf diese Weise das respektvolle gesellschaftliche Miteinander stärke. Im SPD-Regierungsprogramm werden allerdings nicht nur Möglichkeiten positiv hervorgehoben, Wissen über andere Religionen erlangen zu können, sondern auch Gelegenheiten eingefordert, um die eigene Religion besser verstehen und einen aufgeklärten Umgang mit ihren Inhalten und Praktiken ausüben zu können. Aus diesem Grund wird im SPD-Regierungsprogramm der Religions- und Ethikunterricht befürwortet und zudem explizit ein „islamische[r] Religionsunterricht an staatlichen Schulen und in deutscher Sprache“ (Seite 88) hervorgehoben. Die hierfür benötigten Religionslehrer*innen sowie auch die Imame sollen an deutschen Lehrstühlen ausgebildet werden (anders als die Religionslehrer*innen werden Imame im SPD-Regierungsprogramm nur im Maskulinum aufgeführt, so dass die Ausbildung von weiblichen Imaminnen nicht anvisiert wird). Die Etablierung von Ethik- und (islamischem) Religionsunterricht wird in diesem Abschnitt des SPD-Regierungsprogramms primär durch die ihm attestierte funktionale Wirkung – religiösem Extremismus entgegenzuwirken – begründet.

Islam gehört zu Deutschland

An diese Passage schließt sich im Wahlprogramm die explizit artikulierte Auffassung an, dass sowohl die Muslime als auch der Islam zu Deutschland gehören und die Partei die organisatorische Entwicklung von muslimischen Gemeinden und Organisationen unterstützt, wenn sich diese nach deutschem Recht organisieren und die freiheitlich-demokratische Grundordnung achten. Zudem wird befürwortet, dass ihnen „auch die Möglichkeiten unseres bewährten Religionsverfassungsrechts offen[stehen]“ (88).

Damit wird etwa die potenzielle Anerkennung von muslimischen Verbänden als Körperschaften des öffentlichen Rechts, wenn sie die notwendigen Bedingungen – über eine Gewähr der Dauer in Bezug auf ihre Verfassung und ihre Mitglieder sowie die ungeschriebene Vorschrift der Rechtstreue – aufweisen, befürwortet.

Terrorabwehr und Präventionsarbeit

Unter dem Abschnitt „Terrorabwehr – mehr grenzübergreifende Zusammenarbeit und Prävention“ wird zudem eine „Null-Toleranz-Politik gegenüber Hasspredigern und Islamistinnen und Islamisten“ (70f.) angekündigt. Dies bedeutet, dass die SPD radikale Moscheen schließen und ihre Finanzierungen beenden will. Neben solchen restriktiven Maßnahmen setzt sie zusätzlich auf Präventionsarbeit, die gemeinsam mit Moscheeverbänden und islamischen Organisationen erfolgen soll.

Keine grundlegenden Änderungen in der Religionspolitik

Im Regierungsprogramm der SPD werden kaum Anschauungen für eine übergeordnete Religionspolitik entwickelt. Dies deutet darauf hin, dass die Partei keinen Bedarf für grundsätzliche, religionspolitische Modifikationen sieht, sondern die gültigen Bestimmungen als geeignete Basis für den Umgang mit der zunehmenden Diversifizierung der religiösen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland sowie der steigenden Zahl von konfessionslosen Bürgern bewertet. Die Zurückhaltung deutet zudem darauf hin, dass die SPD Religionspolitik in ihrem Regierungsprogramm nicht als Wahlkampfthema bestimmt.

Zwar widmet die Partei einige Passagen ihres Regierungsprogramms der Darstellung ihrer zukünftigen Islampolitik, allerdings werden darin primär richtungsweisende Impulse – wie die Anerkennung des Islams als Teil Deutschlands sowie die Anwendung der religionsverfassungsrechtlich kodifizierten Kooperationsformen zwischen Staat und Religion auf islamische Religionsgemeinschaften – aufgeführt, ohne allerdings konkrete Lösungsansätze für akute Problemlagen – wie etwa die Imamausbildung in Deutschland – zu skizzieren.

Die grundsätzliche politische Stoßrichtung des SPD-Programms zielt auf die Bewahrung der bestehenden Ordnung und deren konsequenterer Anwendung auf andere Religionen. Der Islam wird vorrangig als Aspekt der Religionspolitik thematisiert, so dass das Regierungsprogramm mit Schulz’ Position im TV-Duell übereinstimmt.

Für ein Programm, das als Regierungsprogramm firmiert, mangelt es allerdings an Konkretion und Visionen. Gerade der Bereich der Islampolitik bedarf, besonders angesichts einer sich zuspitzenden Problematik in der Zusammenarbeit zwischen Staat und islamischen Verbänden, mehr als nur einer Bestandssicherung.

Bildquelle: PDF „Zeit für mehr Gerechtigkeit. Unser Regierungsprogramm – in 1 Minute“, www.spd.de

Martin Schulz‘ Glaube an eine Politik mit Moral

 

Martin Schulz hat auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2017 einen Vortrag zum Thema „Glaubwürdigkeit in einer pluralen Gesellschaft“ gehalten. Er hat sich seinem Publikum als passiver Katholik vorgestellt und seine persönliche Verbindung zum Kirchentag als eine indirekte eingeordnet. Diese Selbsteinschätzung durchzieht die inhaltliche Gestaltung seines Beitrags. Schulz versucht durch den Aspekt des Glaubens zwar eine Verbindung zum religiösen Hintergrund der Veranstaltung herzustellen, begreift den Glauben dabei aber nicht religiös-substanziell, als eine Verbindung von bestimmten religiösen Inhalten mit dem Akt des Glaubens, sondern definiert ihn als Vertrauen. Vertrauen gilt Schulz als Orientierung, die Menschen in einer Zeit wachsender Komplexität Sicherheit zu geben vermag.

Die Beobachtung, dass ein großer Vertrauensverlust in öffentliche Autoritäten und Einrichtungen – wie die Politik, die Medien und die Wissenschaft – stattgefunden hat, bewertet Schulz insofern als große Gefahr für die Ordnung moderner Gesellschaften. Der Politiker Schulz interessiert sich insbesondere für die Ursachen, die den Vertrauensverlust in die Politik begründen.

Er kritisiert in diesem Zusammenhang falsche Wahlversprechen, durch die Wählerinnen und Wähler langfristig Vertrauen in die Politik verlieren. Politikerinnen und Politiker besitzen Schulz zufolge eine Verpflichtung zur Wahrheit. Neben einer objektiven Wahrheit konstatiert Schulz allerdings auch eine gefühlte Wahrheit, da Wissen durch drei Faktoren bedingt sei: Zum einen durch die Zuverlässigkeit der Person, die es vermittelt, zum anderen durch die Wahrheit der Aussage sowie drittens durch das Bauchgefühl der Wahrnehmenden. Folgt man dieser Aufzählung, so wird eine zentrale Herausforderung der Wahrheitsvermittlung deutlich: Nicht alle Rezipierenden werden zur gleichen Einschätzung über die Zuverlässigkeit der Personen gelangen und das gleiche Bauchgefühl entwickeln. Schulz leitet aus dieser Schwierigkeit einen Appell an Politikerinnen und Politiker ab, ihre Zuverlässigkeit ständig neu unter Beweis zu stellen und um Vertrauen zu werben.

Er warnt hierbei zudem eindringlich vor einer Politik ohne Moral und bezieht als negatives Anschauungsbeispiel die USA in seine Überlegungen ein. Im US-amerikanischen Wahlkampf wurden Schulz zufolge Grenzen des Anstands und der Menschenwürde überschritten, indem politische Mitbewerber nicht als Konkurrenten, sondern als Feinde inszeniert und bewertet wurden. Er bindet ein eignes Versprechen hinsichtlich seines Wahlkampfverhaltens an diesen Themenkomplex an und spricht sich dafür aus, zwar scharfe inhaltliche Auseinandersetzungen mit den politischen Mitbewerbern zu suchen, sich aber gegenüber den Personen respektvoll zu verhalten.

Zugleich nimmt Schulz Politikerinnen und Politiker in die Pflicht, die Komplexität der Welt zwar zu erfassen und diese auch zu vermitteln, sie für die Bürgerinnen und Bürger aber in größtmöglicher Deutlichkeit zu formulieren.
Politikerinnen und Politikern, Journalistinnen und Journalisten sowie wissenschaftlichen Expertinnen und Experten müsse es gelingen, Aufmerksamkeit und Vertrauen wieder zu gewinnen, da fehlendes Vertrauen zu Ungewissheit, diese wiederum zu Angst und Angst zu Hass führen werde.
Um die Ausbreitung einer solchen Abwärtsspirale zu verhindern, wirbt Schulz bei den Bürgerinnen und Bürgern um einen „Vertrauensvorschuss“ für die Politik. Er verbindet diesen mit einer optimistischen Zukunftsperspektive, die auf seinem Glauben basiert, dass der Populismus aufgehalten und die Errungenschaften der Demokratie bewahrt werden können.

Schulz verspricht den Zuhörenden auf dem Kirchentag somit eine Politik, die sich um Wahrheit, um Klarheit und um Moral bemüht, verlangt von den Bürgerinnen und Bürgern im Gegenzug jedoch ein Zutrauen in die Wahrheitsfähigkeit der Politik und die Integrität von Politikerinnen und Politikern.