Wozu Religionspolitik? Zur Erläuterung des anhaltenden Regelungsbedarfs in der Religionspolitik

Die Analysen der Wohlprogramme vom CDU/CSU, SPD, Die Linke, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und AfD für die Bundestagswahl 2017 haben ergeben, dass der Aspekt „Religion“ die politischen Agenden der Parteien entscheidend mitbestimmt.
Dieses Agenda Setting lässt sich mit dem provokanten Hinweis des Verfassungsrechtlers Ernst Wolfgang Böckenförde, dass „mit der Anerkennung der Religionsfreiheit im Grundgesetz alles Notwendige zum Verhältnis von Staat und Religion gesagt“ ist (Böckenförde 2000: 173), allerdings kritisch in Frage stellen. Wieso also gibt es in diesem Politikfeld trotz der religionsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetz immer wieder neuen Regelungsbedarf?

Anders als es Böckenfördes zugespitzte Aussage andeutet, besteht das deutsche Religionsverfassungsrecht nicht allein aus der Religions-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit, sondern auch aus den § 136-141 der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die in den §140 des Grundgesetzes aufgenommen wurden. Darin werden nicht nur Trennungslinien zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, sondern auch zahlreiche Verbindungspunkte fixiert, aus denen sich eine komplexe Gemengelage bezüglich des Verhältnisses von Religion und Politik ergibt. Aktuell erzeugen vor allem der Umgang mit religiöser Vielfalt und der Zunahme von konfessionslosen Bürger*innen politischen Regelungsbedarf. Dies kann in den Wahlprogrammen vor allem durch die politischen Steuerungsvorschläge nachvollzogen werden, welche die Parteien zur religionspolitischen Integration der islamischen Religion oder im Umgang mit Herausforderungen von religionsaffinen Konflikten, wie religiösem Extremismus, einführen.

Hierbei steht zuletzt auch die Aktualität der religionspolitischen Regelungen, die bis vor wenigen Jahren noch als Staatskirchenrecht firmierten, selbst zur Diskussion. Ulrich Willems, Politikwissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, bewertet eine öffentliche Debatte über das Religionsverfassungsrecht aus diesen Gründen als wichtigen Baustein, um die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber der Religionspolitik zu erhöhen. Er beobachtet eine Schlagseite zugunsten der christlichen Politik, die sich aus der Entstehung des Religionsverfassungsrechts im Rahmen der historischen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche entwickelt habe und insofern eine kollektive religiöse und kulturelle Identität gegenüber anderen religiösen und weltanschaulichen Formen bevorzuge (Willems 2012: 138-140). Willems fordert eine offene Diskussion in der Schieflagen besprochen und eine Kultur der Verständigung etabliert werden könne.

Setzt man in einem solchen Regelungsfall allerdings auf das Mehrheitsprinzip und versucht – etwa durch Volksabstimmungen – neue Steuerungsprinzipien zu schaffen, kann sich diese Absicht ins Gegenteil verkehren und zur Einschränkung von Minderheitenrechten führen. Dieser Fall lässt sich am Schweizer Minarettverbot studieren. Obwohl der Nationalrat mehrheitlich empfohlen hatte, die Kampagne „Gegen den Bau von Minaretten“ abzulehnen und der Bundesrat herausgestellt hatte, dass die Initiative die Glaubens- und Gewissensfreiheit verletze, wies das amtliche Endergebnis eine größere Zustimmungsquote für die Kampagne auf, so dass die Rechte von muslimischen Gläubigen in der Schweiz eingeschränkt wurden.

Die Gefahr solcher gesellschaftlicher Polarisierungsprozesse, die Unruhen auslösen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden können, mag eine Ursache dafür sein, warum die politischen Parteien bislang (auch intern) eine offene Auseinandersetzung über ihre religionspolitische Ausrichtung scheuen. Einzig Bündnis 90/Die Grünen haben mit der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ einen intensiven Arbeitsprozess über die religionspolitische Ausrichtung ihrer Partei initiiert.

Ist die insgesamt zögerliche Bereitschaft der Parteien, eine grundsätzliche Debatte über das gültige Religionsverfassungsrechts zu führen, auch dadurch zu erklären, dass viele Politiker trotz veränderter gesellschaftlicher Realitäten die gültigen Bestimmungen des Religionsverfassungsrechts für gut und ausreichend anschlussfähig bewerten? Auf diesen Erklärungsansatz deuten viele Stellungnahmen sowohl von Politikern als auch von Experten hin. So schreibt Peter Unruh im „Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System“, dass „[d]as Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes […] nach wie vor ein auch im internationalen Vergleich hohes Integrationspotential zur Verfügung [stellt]“ (Unruh 2015: 761).

Diese Haltung findet sich auch in den untersuchten Wahlprogrammen wieder. So bekennt sich die SPD zu den bestehenden Regelungen und konzentriert sich auf deren Verwaltung. Sie fasst zudem zusätzlich – wie auch die Grünen – ihre Anwendung auf andere Religionen, insbesondere auf die islamische Religion, ins Auge und spricht sich in diesem Zusammenhang für islamische Theologie an staatlichen Universitäten aus.

Bei Bündnis 90/Die Grünen deutet sich überdies, durch die Forderung nach Ablösungen der Staatsleistungen an die Kirchen, eine leichte Tendenz für eine stärkere Separation von Staat und Kirche an. Diese wird im Wahlprogramm jedoch nicht weiter verfolgt.

Anders stellt sich dies im Wahlprogramm der Linkspartei dar. Sie strebt grundsätzliche Änderungen des Religionsverfassungsrechts an und fordert eine stärkere Trennung von Religion und Politik. Hierdurch würde die aktuell praktizierte Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften beendet und durch eine laizistische Trennung der beiden Bereiche ersetzt. Diese Umgestaltung scheint jedoch weniger auf partizipativen Diskussionen, sondern eher auf einem vorgefassten Weltbild zu basieren.

Die FDP sparrt diese Auseinandersetzung im aktuellen Wahlprogramm nahezu vollständig aus.

CDU/CSU klassifizieren die staatliche Zusammenarbeit mit den Kirchen als gewinnbringend, bewerten jedoch die Kooperationen mit Vertretern der islamischen Religion primär als problematisch und konfliktreich. Hierin deutet sich keine Abkehr von der kooperativ ausgerichteten Religionspolitik, sondern vielmehr eine Gefährdung der weltanschaulichen Neutralität des Staates an. Letztere begründet sich dadurch, dass die Unionsparteien eine Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Religionen in ihrem Regierungsprogramm einführen.

Die AfD beschränkt sich in ihrem Wahlprogramm auf die vermeintlich problematischen Auswirkungen der Kooperationen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Sie führt diese in Bezug auf die islamische Religion aus. Die AfD stellt hierbei vermeintliche Gefahren im Zusammenhang mit der islamischen Religion heraus und fordert stärkere Restriktionen für die Religionsausübung von Muslimen. Auf diese Weise gibt die AfD das zentrale Prinzip der Religionsfreiheit preis.

Obwohl die Bestimmungen des Religionsverfassungsrechts nicht in allen Wahl- und Regierungsprogrammen explizit befürwortet und in anderen sogar abgelehnt werden, deutet sich in den Parteien kaum eine offene Auseinandersetzung über die grundsätzliche Ausrichtung und die Prinzipien der Religionspolitik in Deutschland an. Eine solche Auseinandersetzung würde nicht notwendigerweise Änderungen der gültigen Regelungen implizieren, sondern könnte auch dazu beitragen, den funktionalen Wert bestehender Prinzipien neu zu erkennen und zu festigen. Ein sachlicher Diskussionsprozess könnte zu mehr Klarheit und Eindeutigkeit in der Religionspolitik beitragen. Dass ein solcher Bedarf existiert, wird an den zahlreichen Problembeschreibungen in den Wahl- und Regierungsprogrammen sowie durch die abweichenden Zielsetzungen der religionspolitischen Agenden der verschiedenen Parteien deutlich. Damit eine solche Diskussion den gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt sowie die zivilgesellschaftliche Partizipation stärkt, muss der Rahmen für solche Diskussionen sorgsam abgewogen, kooperativ gestaltet und zudem gewährleistet werden, dass gesellschaftliche Minderheiten vor Einschränkungen und Übergriffen durch Mehrheitsbeschlüsse geschützt werden.

 

 

Literatur:

Böckenförde, Wolfgang-Ernst: Notwendigkeit und Grenzen staatlicher Religionspolitik. In: Thierse, Wolfgang (Hg.): Religion ist keine Privatsache, Düsseldorf 2000, 173-184.

Unruh, Peter: Das Bundesverfassungsgericht und das Religionsverfassungsrecht. In: Van Ooyen, Robert Chr./ Möllers, Martin H.W. (Hg.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Auflage, Wiesbaden 2015, 759-784.

Willems, Ulrich: Religionsfreiheit und Religionspolitik im Zeitalter religiöser und kultureller Pluralität. Ein Plädoyer für einen neuen religionspolitischen modus vivendi und modus procedendi. In: Bogner, Daniel/ Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Freiheit – Gleichheit – Religion. Orientierung moderner Religionspolitik, Würzburg 2012, 134-151.

Religionspolitik im Bundestagswahlkampf 2017 – Teil 2: Regierungsprogramm der SPD

Im TV-Duell hat der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, die Position vertreten, dass die islamische Religion als eine Religion neben anderen in Deutschland behandelt werden sollte. Demnach müsste die SPD ihre Islampolitik primär als Religions- und weniger als Immigrations- und Sicherheitspolitik konstituieren.

Zugleich hat Schulz gefordert, Hassprediger zu stoppen und entsprechende Moscheen zu schließen. Durch eine Analyse der Religionspolitik im SPD-Regierungsprogramm kann überprüft werden, ob die Angaben aus dem TV-Duell mit dem Programm übereinstimmen und zudem herausgestellt werden, welche religionspolitische Agenda die SPD für die kommende Legislaturperiode vertritt.

Im Regierungsprogramm findet sich kein separater Abschnitt zur Religionspolitik. Der Aspekt „Religion“ wird in verschiedenen Teilabschnitten thematisiert.
So werden in dem Oberkapitel „Es ist Zeit für eine offene und moderne Gesellschaft“ die Leistungen „vieler Freiwilliger, aber auch von Menschen in Verwaltung, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Initiativen und Vereinen“(79) gerade in Bezug auf die Aufnahme und den Umgang von neu hinzugezogenen Personen in Deutschland würdigend hervorgehoben und zudem ihr Engagement gegen Rassismus als wichtige Leistungen für die Gesellschaft klassifiziert (Seite 79f.).

Integration und Teilhabe

In dem Unterkapitel „Integration und Teilhabe – die deutsche Einwanderungsgesellschaft gestalten“ wird der interreligiöse Dialog ausgezeichnet, da er das Wissen über Religionen sowie Begegnungen zwischen verschiedenen Religionen fördere und auf diese Weise das respektvolle gesellschaftliche Miteinander stärke. Im SPD-Regierungsprogramm werden allerdings nicht nur Möglichkeiten positiv hervorgehoben, Wissen über andere Religionen erlangen zu können, sondern auch Gelegenheiten eingefordert, um die eigene Religion besser verstehen und einen aufgeklärten Umgang mit ihren Inhalten und Praktiken ausüben zu können. Aus diesem Grund wird im SPD-Regierungsprogramm der Religions- und Ethikunterricht befürwortet und zudem explizit ein „islamische[r] Religionsunterricht an staatlichen Schulen und in deutscher Sprache“ (Seite 88) hervorgehoben. Die hierfür benötigten Religionslehrer*innen sowie auch die Imame sollen an deutschen Lehrstühlen ausgebildet werden (anders als die Religionslehrer*innen werden Imame im SPD-Regierungsprogramm nur im Maskulinum aufgeführt, so dass die Ausbildung von weiblichen Imaminnen nicht anvisiert wird). Die Etablierung von Ethik- und (islamischem) Religionsunterricht wird in diesem Abschnitt des SPD-Regierungsprogramms primär durch die ihm attestierte funktionale Wirkung – religiösem Extremismus entgegenzuwirken – begründet.

Islam gehört zu Deutschland

An diese Passage schließt sich im Wahlprogramm die explizit artikulierte Auffassung an, dass sowohl die Muslime als auch der Islam zu Deutschland gehören und die Partei die organisatorische Entwicklung von muslimischen Gemeinden und Organisationen unterstützt, wenn sich diese nach deutschem Recht organisieren und die freiheitlich-demokratische Grundordnung achten. Zudem wird befürwortet, dass ihnen „auch die Möglichkeiten unseres bewährten Religionsverfassungsrechts offen[stehen]“ (88).

Damit wird etwa die potenzielle Anerkennung von muslimischen Verbänden als Körperschaften des öffentlichen Rechts, wenn sie die notwendigen Bedingungen – über eine Gewähr der Dauer in Bezug auf ihre Verfassung und ihre Mitglieder sowie die ungeschriebene Vorschrift der Rechtstreue – aufweisen, befürwortet.

Terrorabwehr und Präventionsarbeit

Unter dem Abschnitt „Terrorabwehr – mehr grenzübergreifende Zusammenarbeit und Prävention“ wird zudem eine „Null-Toleranz-Politik gegenüber Hasspredigern und Islamistinnen und Islamisten“ (70f.) angekündigt. Dies bedeutet, dass die SPD radikale Moscheen schließen und ihre Finanzierungen beenden will. Neben solchen restriktiven Maßnahmen setzt sie zusätzlich auf Präventionsarbeit, die gemeinsam mit Moscheeverbänden und islamischen Organisationen erfolgen soll.

Keine grundlegenden Änderungen in der Religionspolitik

Im Regierungsprogramm der SPD werden kaum Anschauungen für eine übergeordnete Religionspolitik entwickelt. Dies deutet darauf hin, dass die Partei keinen Bedarf für grundsätzliche, religionspolitische Modifikationen sieht, sondern die gültigen Bestimmungen als geeignete Basis für den Umgang mit der zunehmenden Diversifizierung der religiösen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland sowie der steigenden Zahl von konfessionslosen Bürgern bewertet. Die Zurückhaltung deutet zudem darauf hin, dass die SPD Religionspolitik in ihrem Regierungsprogramm nicht als Wahlkampfthema bestimmt.

Zwar widmet die Partei einige Passagen ihres Regierungsprogramms der Darstellung ihrer zukünftigen Islampolitik, allerdings werden darin primär richtungsweisende Impulse – wie die Anerkennung des Islams als Teil Deutschlands sowie die Anwendung der religionsverfassungsrechtlich kodifizierten Kooperationsformen zwischen Staat und Religion auf islamische Religionsgemeinschaften – aufgeführt, ohne allerdings konkrete Lösungsansätze für akute Problemlagen – wie etwa die Imamausbildung in Deutschland – zu skizzieren.

Die grundsätzliche politische Stoßrichtung des SPD-Programms zielt auf die Bewahrung der bestehenden Ordnung und deren konsequenterer Anwendung auf andere Religionen. Der Islam wird vorrangig als Aspekt der Religionspolitik thematisiert, so dass das Regierungsprogramm mit Schulz’ Position im TV-Duell übereinstimmt.

Für ein Programm, das als Regierungsprogramm firmiert, mangelt es allerdings an Konkretion und Visionen. Gerade der Bereich der Islampolitik bedarf, besonders angesichts einer sich zuspitzenden Problematik in der Zusammenarbeit zwischen Staat und islamischen Verbänden, mehr als nur einer Bestandssicherung.

Bildquelle: PDF „Zeit für mehr Gerechtigkeit. Unser Regierungsprogramm – in 1 Minute“, www.spd.de

Politik auf dem Kirchentag

Vom 24. bis 28. Mai 2017 findet in Berlin und Wittenberg der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag statt. Neben geistlichen und kulturellen Angeboten werden auf dem Kirchentag auch viele gesellschaftspolitische Fragen diskutiert. So finden dort etwa Veranstaltungen zu den Themen Ende des Wachstums, Ernährung und Landwirtschaft, Europa, Flucht, Migration, Integration, Folgen des Klimawandels, Frieden sowie Vielfalt und gesellschaftliches Zusammenleben statt. Diese Themen werden sowohl mit Personen aus dem kirchlichen und akademischen Spektrum als auch mit zahlreichen politischen Akteuren debattiert.

Wie lässt sich die Fokussierung des evangelischen Kirchentages auf politische Themen erklären, wo es sich dabei doch um eine kirchlich-religiöse Initiative handelt? Und worauf gründet die enge Zusammenarbeit zwischen Religion und Politik – wie sie sich auf dem Kirchentag sowohl durch das Agenda Setting als auch durch die Koordination und die Akteure auszeichnet – wo in Deutschland doch eine Trennung von Staat und Religion im Grundgesetz festgelegt ist?

Das Verhältnis zwischen Staat und Religion in Deutschland charakterisiert sich nicht durch eine strikte Separation, sondern durch eine Kooperation der beiden Bereiche, so dass nicht nur Trennungs-, sondern auch Verbindungslinien zwischen Staat und Religion bestehen (vgl. Hidalgo 2016: 24-26).
Der Staat verpflichtet sich jedoch zur weltanschaulichen Neutralität und zeichnet sich insofern durch eine Nicht-Kompetenz in Fragen umfassender Sinnorientierung und der Definition von Maßstäben für ein gutes und gelingendes Leben aus. Letzteres bildet den thematischen Zusammenhang, in den das sogenannte Böckenförde-Paradoxon, nach dem der „freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 2007: 8), in der Regel gestellt wird.
Wolfgang Böckenförde hat damit in den 1960er Jahren versucht, die Attraktivität des säkularen Rechtsstaats für die Kirchen aufzuzeigen, und sie dazu zu ermutigen, sich auch in einem säkularisierten Staat zu engagieren. Geht es darum die Bedeutung von Religionsgemeinschaften für Staat und Gesellschaft zu betonen, wird häufig auf das Böckenförde-Paradoxon rekurriert und eine gewisse Abhängigkeit des Staates von Sinnstiftungsorganisationen – wie beispielsweise Religionsgemeinschaften – postuliert. Dieser Aspekt kann demnach als ein Faktor für das staatliche Interesse an einer Kooperation zwischen Staat und Religion bewertet werden.

Wie aber lässt sich das religiöse Interesse an politischen Fragen erklären? Ist dafür eine zunehmende Politisierung der Zivilgesellschaft verantwortlich oder begründet sich dieses Interesse aus der christlichen Religion selbst?
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Heinrich Bedford-Strohm, hat erklärt, dass die evangelische Kirche sich aus dem klaren Bewusstsein in politischen Debatten einbringt, „dass auch eine moderne demokratische und pluralistische Gesellschaft in ethischen Grundfragen Orientierung braucht. (…) Dass eine pluralistische Gesellschaft ohne moralische Geltungsansprüche, die auch von Akteuren im öffentlichen Diskurs mit Leidenschaft vertreten werden, kraftlos wird und am Ende verflacht“ (Bedford-Strohm 2015).
Bedford-Strohm greift in dieser Argumentation die Grundidee des Böckenförde-Paradoxons auf. Im Weiteren Verlauf seiner Argumentation weist er jedoch nicht nur den Mehrwert des christlichen Engagements für die Gesellschaft auf, sondern zeigt zudem auf, dass sich das gesellschaftspolitische Engagement der evangelischen Kirche und ihrer Akteure aus der religiösen Botschaft bzw. ihrer Religiosität selbst ergibt: „Frömmigkeit ohne Engagement für die Welt ist ein Widerspruch in sich. Wie könnte man zu einem Gott beten, der die Welt geschaffen hat, und dann reine Innerlichkeit pflegen und der Welt das Zeugnis der Liebe vorenthalten?“ (ebd.). Insofern sieht Bedford-Strohm die evangelische Kirche als eine, „die ausstrahlt, wovon sie spricht. Eine Kirche, die nicht nach innen gekehrt ist, sondern alle neu einlädt. Ein [sic!] Kirche, die geistliche Ausstrahlung und radikale Liebe zur Welt miteinander verbindet. Eine Kirche, die sich auf klarer theologischer Basis in den zivilgesellschaftlichen Diskurs einbringt“ (ebd.).
Hieran wird deutlich, dass Bedford-Strohm die Aufgabe zur Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen, das öffentliche Auftreten der Kirchen, als religiösen Auftrag begreift. Er betrachtet die Kirche dabei als einen Akteur, der in der politischen Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft und somit im „vorparlamentarischen“ Raum agiert (vgl. Habermas 2005: 137) und nicht in politische Prozesse selbst eingreift.

Bedford Strohm macht in seiner Argumentation das öffentliche Interesse der evangelischen Kirche auch an politischen Fragen der Gesellschaft deutlich. Dennoch häufen sich seit einigen Monaten kritische Stimmen aus Kirche und Politik, die das politische Engagement der evangelischen Kirche sowohl als zu intensiv als auch als zu restriktiv empfinden (vgl. etwa Joas 2016). Dabei wird sowohl eine mangelnde Toleranz für politischen Pluralismus als auch eine Vernachlässigung der religiösen Botschaft kritisiert.
Um dieser Kritik konstruktiv zu begegnen, sollten kirchliche Akteure verstärkt darauf achten, ihre religiösen Bezüge und Beweggründe für politisches Interesse und politische Positionen immer zuerst theologisch zu reflektieren und zu erklären. Nur auf diese Weise können divergente politische Positionen innerhalb der Kirche fruchtbar bearbeitet und das gesellschaftspolitische Engagement kirchlicher Akteure zugleich als religiöses Handeln begriffen werden.

Literatur:

Bedford-Strohm, Heinrich: Mündlicher Bericht des Ratsvorsitzenden vor der EKD Synode, 2015. Auf://landesbischof.bayern-evangelisch.de/upload/speech/ekd_ratsbericht_muendlich_2015-05-02.pdf, Zugegriffen: 25.05. 2017.

Bielefeldt, Heiner: Muslime im säkularen Rechtsstaat. Integrationschancen durch Religionsfreiheit, Bielefeld 2003.

Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der säkularisierte Staat, München 2007.

Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005.

Hidalgo, Oliver: Religionspolitisch relevante Theoriedebatte in Deutschland – eine vorläufige Skizze. In: Liedhegener, Antonius/ Pickel, Gert (Hg.): Religionspolitik und Politik der Religionen in Deutschland. Fallstudien und Vergleiche, Wiesbaden 2016, 23-60.

Joas, Hans. 2016. Kirche als Moralagentur. München: Kösel Verlag.

Foto: Kirchentag/Vankann