Der Hamburger Religionsunterricht für alle – ein zukunftsweisendes Konzept für den Religionsunterricht?

Hamburger Modell: Religionsunterricht für alle

Hamburg hat ein bundesweit einzigartiges Konzept für den Religionsunterricht eingeführt: dort werden Kinder aller Glaubensrichtungen und auch Kinder konfessionsloser Familien gemeinsam unterrichtet. Die Inhalte des Schulfachs wurden bislang jedoch allein von der evangelischen Kirche verantwortet. Mit dem neuen Konzept eines Religionsunterrichts für alle in multireligiöser Trägerschaft wurde dies geändert. Die interreligiöse Öffnung des Unterrichts erfolgt nun auch formal durch die Trägerschaft anderer Religionsgemeinschaften. Diese verantworten im neuen Modell die jeweils sie betreffenden Unterrichtsinhalte selbst.
 
Politischen Anlass zu diesen Neuüberlegungen gaben die 2013 geschlossenen Verträge zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg mit der alevitischen Gemeinde und den islamischen Verbänden DITIB, VIKZ und Schura Hamburg. Darüber hinaus wurde eine Neuausrichtung des Hamburger Religionsunterrichts auch durch die anhaltende Kritik an der alleinigen evangelischen Trägerschaft forciert, die sowohl von Vertretern des konventionellen Religionsunterrichts als auch von Akteuren pädagogischer und stadtpolitischer Debatten ausging.

Im neuen Modell können neben evangelischen auch jüdische, muslimische, alevitische und voraussichtlich auch katholische Lehrkräfte den Religionsunterricht erteilen. Als Voraussetzung für die Lehrerlaubnis gilt dem Hamburger Senat ein vollständiges Studium und Referendariat (vgl. Behörde für Schule und Berufsbildung: Wegweiser. Ein Religionsunterricht für alle Kinder). Der Unterricht soll ausschließlich von staatlichen Lehrkräften erteilt werden – Geistliche und Mitarbeiter von Religionsgemeinschaften sind nicht dazu berechtigt. Begründet wird dies durch den Anspruch an den Religionsunterricht, Bildung und religiöse Mündigkeit zu vermitteln (vgl. ebd.). Der Religionsunterricht soll die Schüler zudem dazu befähigen, sich in einer multireligiösen Gesellschaft mit unterschiedlichen Weltanschauungen offen bewegen zu können. Der Religionsunterricht für alle möchte seine Schüler zu einem „offenen Dialog“ ermutigen, „in dem die Schülerinnen und Schüler gemeinsam nach solchen Orientierungen im Fühlen und Denken, im Glauben und Handeln suchen, die auf eine lebensfreundliche, freiheitliche und menschenwürdige Zukunft für alle  in einer endlichen Welt zielen“ (ebd.).
 
Hamburg hat als Vorbereitung auf den neuen Religionsunterricht einen Pilotversuch durchgeführt. Dafür wurde eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Schulbehörde sowie von Vertreterinnen und Vertretern der beteiligten Religionsgemeinschaften gegründet, in der schulpraktische und didaktische Fragen diskutiert, Rahmenlehrpläne erarbeitet und die Lehrerbildung und -zulassung erörtert wurde. Zusätzlich wurden gemischte Kommissionen gebildet und es wurden an der Universität Hamburg Lehramtsstudiengänge für islamische und alevitische Religion eingerichtet (vgl. ebd.).
 

Religionsunterricht im Grundgesetz 
 
Neben diesen praktischen Herausforderungen stellen sich auch juristische Anfragen an das neue Modell. Der Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 ist als einziges Unterrichtfach durch das Grundgesetz abgesichert. Er muss in Übereinstimmung mit den „Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt werden – unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts. Diese Bestimmung geht auf die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates zurück: der Staat kann nicht über religiöse Wahrheitsansprüche verfügen. Zugleich ergibt sich aus diesem Spezifikum des Religionsunterrichts, dass er keiner Person zugemutet werden kann, die diesen Wahrheitsanspruch ablehnt. Aus diesem Grund muss es Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern möglich sein, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Aufgrund dessen ist der Religionsunterricht nicht unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen zu denken. Demzufolge tangieren religiöse Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozesse, die in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten voranschreiten, die Praxis des Religionsunterrichts.
 
Der Rechtswissenschaftler Hinnerk Wißmann konstatiert drei unterschiedliche Strategien schulrechtlicher Praxis im Umgang mit den daraus resultierenden Anforderungen an den Religionsunterricht: 1. die Öffnung des jeweiligen Mehrheitsunterrichts im Klassenverband für Schüler anderer oder keiner Konfessionen. 2. Parallel stattfindende Angebote verschiedener Religionsunterrichte (vor allem evangelisch, katholisch und inzwischen auch islamisch) und 3. die Einrichtung eines „kooperativen gemeinchristlichen Religionsunterrichts“, häufig ergänzt durch Philosophie- bzw. Ethikunterricht (vgl. Wißmann, Hinnerk: Religionsunterricht für alle? Zum Beitrag des Religionsverfassungsrechts für die pluralistische Gesellschaft, Tübingen 2019, 31).
 
In Hamburg wurde jedoch ein anderer Weg gewählt. Dort wurde zunächst ein Religionsunterricht für alle in evangelischer Trägerschaft eingerichtet. Inzwischen wurde er durch das Konzept des Religionsunterrichts für alle in gemeinsamer Trägerschaft ersetzt. Wißmann betrachtet die Neuerung als ein völlig neues Modell, das grundlegende verfassungsrechtliche Fragen evoziert (vgl. ebd., 33).

Aus diesem Grund hat die Nordkirche ein rechtswissenschaftliches Gutachten beauftragt. Wißmann überprüft darin, ob es im Rahmen von Art. 7 Abs. 3 GG möglich ist, „eine religionsübergreifende Einigung auf ‚Grundsätze‘“ zu formulieren, die als „Grundlage eines Curriculums herangezogen werden können“ (ebd., 33).
 
Wißmann gelangt in seinem Orientierungsgutachten zu der Auffassung, dass „unter linearer Anwendung der bisher vorzufindenden Kriterien […] ein religionsübergreifender, trägerpluraler Religionsunterricht im Bereich des Art. 7 Abs. 3 GG nicht möglich [ist]“ (ebd., 60). Wißmann konstatiert demnach, dass sich der Hamburger Religionsunterricht außerhalb der Reihe des konventionellen Religionsunterrichts bewegt. Daraus leitet er aber nicht dessen verfassungsrechtliche Unmöglichkeit ab. Vielmehr sieht Wißmann neue Möglichkeiten, wenn einer solchen Weiterentwicklung eine bewusste Entscheidung vorausgeht.
 
Unter der Voraussetzung einer gesellschaftspolitischen Willensbekundung sind demnach neue Wege beim Religionsunterricht denkbar. Diese setzen aber eine Begründungslast der Akteure voraus. Sie müssen belegen, warum ihre neuen Pfade den Auftrag des Verfassungsrechts noch immer erfüllen. Zudem müssen sie exakt nachzeichnen, an welchen Punkten sich ihre Neuregelungen von den bisher angewandten Vorgaben unterscheiden und darüber hinaus aufzeigen, ob dafür eine „hinreichende Kompensation“ zur Verfügung gestellt wird (ebd., 65). Die Erfahrung mit dem neuen Konzept wird zeigen, ob der Hamburger Religionsunterricht für alle in multireligiöser Trägerschaft ein Zukunftsmodell für den Religionsunterricht in Deutschland sein kann.
 
Dr. Hanna Fülling
 
Behörde für Schule und Berufsbildung: Wegweiser. Ein Religionsunterricht für alle Kinder

Zuerst veröffentlicht auf: www.ezw-berlin.de

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Dr. Hanna Fülling hat einen Bachelor an der FU Berlin zum Thema "Interreligiöser Dialog" und den Master "Religion and Culture" an der HU Berlin gemacht. 2018 hat sie ihre Promotion zum Thema "Religion und Integration in der deutschen Islampolitik" beendet.